Den Wettlauf mit der Komplexität können wir nicht gewinnen

Diese Aussage im Kommentar meines Post Komplexitätsmanagement – Können wir Komplexität in Unternehmen handhaben, wenn ja wie? Welche Rolle spielt dabei Simplifizierung? hat mich zum weiteren Nachdenken über Komplexität angeregt. Die Ergebnisse dieser Gedankengänge, die nur vorläufigen Charakter haben können, wenn man dem Titel meines Posts glauben schenkt, möchte ich hier gerne darlegen. Und ich glaube fest daran, dass wir den Wettlauf mit der Komplexität nicht gewinnen können. Warum? Lesen Sie gerne weiter.

Zur Definition von Komplexität möchte ich in diesem Post nicht weiter eingehen. Da möchte ich auf das Cynefin-Modell von Dave Snowden verweisen, welches ich in meinem Post Behindert unser unzureichendes Zahlenverständnis unser Problemlösen? reflektiere.

Sie kennen doch sicherlich das Grimm-Märchen Der Hase und der Igel, in welchem Hase und Igel Wettläufe bestreiten und der Hase einfach nicht gewinnen kann, da der Igel trickst. Ähnlich wie dem Hasen ergeht es uns mit der Komplexität. Immer wieder versuchen wir die Komplexität einzuholen, müssen aber immer wieder leidlich erfahren, dass wir das nicht schaffen. Immer wieder trickst diese “stachlige” Komplexität uns aus. Nur mit welchen Tricks? Das möchte ich im Folgenden beleuchten.

Trick 1: Emergenz

Aus der Systemtheorie kennen wir das Phänomen der Emergenz, welche besagt, dass das Ganze stets mehr ist als die Summe der Teile des Ganzen. Um also eine Sachlage oder eine Problematik zu verstehen, müssen wir Sie im Ganzen betrachten. Bereits ein Herausnehmen von Teilen führt zu einer Verfälschung der Sachlage oder der Problematik. In den allermeisten Fällen besteht ein Problem aus einer Reihe von Einflussfaktoren, die wir gar nicht alle auf einmal wahrnehmen und betrachten können. Dafür ist unser Aufmerksamkeitsfenster viel zu klein. Ein gleichzeitiges Erfassen einer Gesamtsituation geht also rein anatomisch und kognitiv nicht. Auf der anderen Seite sichert uns aber diese Vereinfachung überhaupt erst das Überleben in einer dynamischen Umwelt. Dafür möchte ich jeweils ein Beispiel anführen, eines welches die Sinnhaftigkeit von Trivialisierung untermauert und eines welches die Gefahren offenlegt. Fahren Sie mit dem Auto beispielsweise von Rostock nach München, bringt Ihnen eine Karte, in welcher auf der Strecke zwischen Rostock und München jede kleine Nebenstraße eingezeichnet ist, relativ wenig, im Gegenteil diese Information wird Sie wahrscheinlich verwirren. Den überwiegenden Teil der Strecke verbringen Sie auf der Autobahn. Hier hilft also Vereinfachung absolut weiter. Wenn Sie Wasser in seine Einzelteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegen und aus den Eigenschaften dieser auf die Eigenschaft von Wasser schlussfolgern wollen, würden Sie wahrscheinlich niemals auf die Idee kommen, Wasser zum Löschen von Feuer einzusetzen.

Grundsätzlich benötigen wir Paradigmen, die nicht ständig hinterfragt werden, sondern als gegeben angesehen werden. Diese geben uns Halt und spiegeln den Fakt wider, dass Menschen in der Regel energieeffizient agieren. Hier kommen wir an ein Paradoxon nicht vorbei. Das Bewusstsein für Komplexität wird nur dann ausgebildet, wenn diese das Bewusstsein überfordern. Das Bewusstsein hinkt ständig hinterher. Und wenn wir uns etwas nicht bewusst sind, reagieren wir auch nicht darauf. Selbst beim Denken fokussieren wir, nehmen also Teile heraus und verändern damit ein Problem, was wir durch das Denken und dem anschließend darauf aufbauenden Handeln lösen wollen. Also dürften wir eigentlich nicht denken, würden dann aber auch nicht rational handeln können. Intuitiv könnten wir schon handeln, was aber nicht ausreichend ist, genauso wie rein rationales Handeln nicht ausreichend ist, komplexe Probleme zu lösen. Des Weiteren lassen sich unsere Wahrnehmungen einzig und allein durch Kommunikation mit unseren Mitmenschen teilen. Aber auch die Sprache ist wieder eine Trivialisierung. Wir setzen Objekte und Subjekte, die wir wahrnehmen, mit Buchstaben und Wörtern gleich und erzeugen damit eine Statik, die der Welt nicht unterliegt. Schon Heraklit meinte, das alles fließt und sich verändert. Auf Grund des linearen Aufbaus unserer Sprachen können wir diese Dynamik aber nicht ausdrücken.

Trick 2: Black Box

Aus der Kybernetik kennen wir den Begriff der Black Box. Heinz von Förster leitete daraus die nichttriviale Maschine ab. Die nichttrivialen Maschinen haben keine Fenster, was heißen soll, dass man nicht in sie hineingucken kann. Es lassen sich aber auch nicht aus der Analyse und Gegenüberstellung von Input- zu Outputdaten, Verhaltensmuster dieser Maschinen entlarven. Der Mensch ist eine solche nichttriviale Maschine oder Black Box. Die Gedankengänge eines Menschen sind von außen unsichtbar und werden es auch immer bleiben. Ganz egal was uns die Vertreter der Künstlichen Intelligenz auch weis machen wollen. Das Einzige was sichtbar ist, da messbar, sind Gehirnströme. Aber aus diesen lassen sich niemals Gedankeninhalte ableiten. Ein Mensch kann sich beispielsweise in scheinbar gleichen Situationen komplett unterschiedlich verhalten. Ich sage hier scheinbar, da es keine zwei Situationen geben kann, die absolut identisch sind. Wir trivialisieren im Rahmen unserer Wahrnehmung Situationen als identisch. Aber das hatten wir ja schon im Trick 1. Des Weiteren können wir auch an scheinbar gleichen Gestiken und Mimiken eines Menschen seinen Gemütszustand nicht ansatzweise ablesen. Das Wort scheinbar füge ich hier wieder mit der gleichen Begründung wie ein. Wir haben es also mit Subjektivitäten zu tun, die im Rahmen der menschlichen Kognition nicht formalisierbar sind. Alle Probleme, die wir als komplex wahrnehmen, haben mit Subjektivitäten zu tun. Oder kennen Sie ein Problem wo dies nicht der Fall ist?

Ich möchte nicht versäumen in diesem Zusammenhang Gottfried Wilhelm Leibniz zu erwähnen, der mit seiner Monadologie ebenfalls einen Beitrag geliefert hat, Subjektivitäten zu akzeptieren. Gotthard Günther hat mich in seiner Vorlesung zur Naturphilosophie, die er in Hamburg im Wintersemster 1981 gelesen hat, auf die Monadologie aufmerksam gemacht. Monadologie stammt vom Begriff Monade und kommt aus dem Griechischen, wo Monas gleich Einheit bedeutet. Eine Monade ist die letzte, unteilbare, nicht zusammengesetze Einheit. Leibniz stützt sich in seiner Monadologie auf eben genau diese Vorstellung. Monaden sind für ihn die letzten, einfachen, unteilbaren, individuellen und in sich abgeschlossenen Einheiten oder Substanzen. Sie sind selbständig, haben keinen körperlichen, sondern einen seelisch-geistigen Charakter. Leibniz hat 92 Paragraphen seiner Monadologie aufgestellt. So wie ich diese verstehe, kann man Monaden gut und gerne mit Black Boxes vergleichen.

Trick 3: Problem-Lösungs-Spirale

Je mehr wir wissen, desto mehr wissen wir nicht. Oder anders. Je größer unser Wissen ist, desto größer ist auch unser bekanntes Nichtwissen. Das bedeutet, wir kennen dann mehr Themen, die wir nicht wissen. Die Komplexität wird also dann größer empfunden. Komplexität ist immer subjektiv, wird also von jedem Individuum anders empfunden und wahrgenommen. Unser Wissen hat also unmittelbar etwas mit der subjektiv wahr genommenen Komplexität zu tun. Bezüglich der Komplexität bestehen zwei Sichtweisen. Die eine Sichtweise postuliert, dass wir Menschen Komplexitäten selber erzeugen, die andere, dass Komplexitäten schon immer da waren, wir sie nur jetzt auf Grund unseres gesteigerten Wissens erst wahrnehmen können. Ich tendiere zu der ersten Sichtweise. Wir erzeugen Probleme, die wir versuchen zu lösen, oft auch lösen, und erzeugen damit weitere Probleme. Hier hat sich die Komplexität einen ganz gewieften Trick ausgedacht. Wir befinden uns in einer Spirale, der wir nicht entfliehen können.

Bleibt die Frage, ob diese Spirale irgendwann endet oder nicht, sprich ob wir es mit einer Singularität, die sinnbildlich für ein unbegrenztes Wachstum der Komplexität steht, oder ob wir es mit einem Fixpunkt, der sinnbildlich für ein begrenztes Wachstum der Komplexität steht, zu tun haben. An dieser Stelle streiten sich die Gelehrten und Futuristen noch. Mathematisch ist beides möglich, denn Beides beruht auf Rekursion. Aus der Finanzwirtschaft kennen wir leidlich das Prinzip der Singularität. Durch den Zinseszins wird Geld zu Geld und immer mehr Geld, und das unbegrenzt. Von der menschlichen Kognition her kennen wir das Prinzip des Fixpunktes, was uns erlaubt unsere Umwelt überhaupt erst wahrzunehmen. Wenn sich die Problem-Lösungs-Spirale in Richtung Fixpunkt dreht, hat sich dieser Trick irgendwann ausgetrickst. Dann würden wir diesbezüglich der Komplexität nicht mehr nur hinterher hinken, sondern irgendwann einholen. Aber Vorsicht, wir haben ja noch die beiden anderen Tricks. Allerdings bleibt noch zu überlegen, ob wir in einem Fixpunkt nicht doch eine Verstärkung der Komplexität wahrnehmen, die real nicht da ist. Dieser Fakt ist weitere Überlegungen wert.

Wolfgang Berger geht in seinem Buch Business Reframing – Erfolg durch Resonanz im zweiten Kapitel Managementmoden sind Modekrankheiten darauf ein, wie die Menschen auf Komplexität reagieren. In der ersten Phase leugnen sie diese und machen weiter wie gehabt. Diese Phase nennt er Unterdrücken und Leugnen. Diese Phase ist geprägt von Determiniertheit und Sicherheit, natürlich nur vorgegaukelt. Man glaubt es gäbe Algorithmen, die man zur Lösung von Problemen anwenden kann, die eine Lösungsgarantie zusichern. Abgelöst wird diese erste Phase durch die zweite, dem so genannten Krisenmanagement. Man anerkennt die Unsicherheit und geht von Algorithmen über zu Heuristiken, die keine Lösung garantieren. Hier glaubt man aber noch ganz sicher an die Möglichkeiten direkt auf Komplexitäten Einfluss nehmen zu können. In dieser Phase befinden wir uns wahrscheinlich derzeit gerade bzgl. der Finanzkrise, wenn ich mir die Aktivitäten der Staaten anschaue, wie sie krampfhaft versuchen, verschuldete Staaten wie Griechenland oder Portugal unter die Arme zu greifen. Abgelöst wird die zweite Phase dann durch die dritte, namens Anpassung an eine Welt ohne Kausalketten. Hier akzeptiert man das Ursachen zu Wirkungen und vice versa werden können. Es existieren also keine Kausalketten, sondern Kausalkreise. Mathematisch gesehen vollführt man hier einen Übergang von Heuristiken hin zu Fraktalen. Geprägt ist diese Phase von dem Anerkennen von Nichtlinearitäten, die kleine Ursachen zu großen Wirkungen werden lassen. Das macht ersichtlich, dass direkte Einwirkungsmöglichkeiten in Komplexitäten nicht zum Erfolg führen können. Indirekte oder selbstorganisierende Maßnahmen sind erfolgversprechender.

Die drei Phasen, die Berger anspricht, wechseln sich gegenseitig abhängig von bestimmter Problemen immer wieder ab und sprechen nur das Bewusstsein und die Einstellung der Menschen hinsichtlich der Komplexität an. In der dritten Phase akzeptieren wir die Spirale, dass wir mit Lösungen von existierenden Problemen neue Probleme erschaffen, für die dann wiederum neue Lösungen generiert werden müssen. Wir erkennen also den Kausalkreis, in dem wir Komplexität erschaffen.

Fazit: Jeder Trick für sich, sorgt schon dafür, dass wir Menschen der Komplexität stets hinterherhinken, Trick 2 vielleicht in Abstrichen. Deshalb müssen wir lernen, mit Ehrfurcht und Demut an Komplexität heranzugehen und durch Systemisches Denken ein Gefühl für Komplexität zu entwickeln. Mehr scheint nicht möglich.

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10 Responses to Den Wettlauf mit der Komplexität können wir nicht gewinnen

  1. Peter Addor says:

    Dieser ausgezeichnete Artikel beschreibt eindrücklich die Schwierigkeiten des Komplexitätsmanagements und reisst viele Einzelthemen auf, die es jedes für sich Wert wären, zu vertiefen. Beispielsweise “Intuition vs. Rationalität”. Gigerenzer und Kruse sind der Ansicht, dass in komplexen Situationen Intuition die einzige Strategie und der Rationalität überlegen ist. Ich fürchte, dass sich diese Meinung in einer immer komplexer werdenen Welt fatal auswirken könnte.

    Mit Vereinfachungen und Trivialisierungen habe ich meine liebe Mühe. Man beachte, dass unser Wahrnehmungsapparat von sich aus bereits intensiv vereinfacht. Wenn wir dann nachträglich nochmals vereinfachen, dann bleibt nicht mehr viel von der Welt übrig, die wir gerne “steuern” möchten. Ich möchte auf der Fahr Rostock – München eigentlich ganz gerne eine möglichst detaillierte Karte. Dass ich mich von den vielen Einzehieten nicht verwirren lasse, garantiert ein entsprechendes Training und Achtsamkeit. Ganz gut wäre eine Karte, die ich den Anforderungen entsprechend in- und auszoomen kann, was heute möglich ist. Niemand hat gesagt, dass eine Karte nur auf Papier gedruckt möglich ist. Und autobahfahren ist auch so eine Vereinfachung des modernen Lebens. Will ich wirklich möglichst schnell und einfach nach München fahren, dort vielleicht an einem einstündigen Meeting teilzunehmen, das mir viel (Geld) einbringt und möglichst schnell wieder zurück nach Rostock, um die Beschlüsse des Meeting stressig schnell umzusetzen, um mich sofort wieder an ein Meeting in einer anderen Stadt zu verschieben?

    Eine andere Trivialisierung sind alle die esoterischen und religiösen Strömungen, die immer mehr in Mode kommen, je komplexer unsere Welt wird. Dirk Baecker betrachtet Götter als Mittel zur Komplexitätsreduktion. Je undurchsichtiger die Welt, desto gläubiger werden wir.

    Bleibt zu fragen: so what? Was antworten wir Studenten, denen wir die igelhafte Eigenschaft der Komplexität aufgezeigt haben, und die dann fragen, was sie nun in ihrem Job machen sollen, um auch komplexe Situationen zu meistern? Spontan-intuitiv entscheiden und handeln? Viel kommunizieren? Komplexität reduzieren durch Trivialisierungen? Exakte und weitreichende Planung? Lernen, auch detaillierte Karten lesen zu können?

  2. Oli says:

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