Ich möchte heute aus meiner Sicht aufzeigen, warum Selbstorganisation die wohl einzige Lösung ist, Komplexität zu handhaben, und dass die Etablierung des Viable System Models (VSM) in Unternehmen genau dieser Selbstorganisation einen geeigneten Regelraum gibt.
Starten möchte ich aber noch einmal beim Thema Komplexität und möchte die Unterscheidung in Eigen- und Fremdkomplexität von Unternehmen thematisieren. Diesen Anstoß für weitere Gedankengänge in diesem Thema hat ein Wegbegleiter meiner Reise des Verstehens gegeben.
Unternehmen bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Komplexitätserhöhung und –senkung. Zum einen benötigen Unternehmen eine ausreichend hohe Eigenkomplexität, um die Komplexität ihrer Umwelt (Markt, Politik, Gesellschaft etc.) zu handhaben. Zum anderen benötigen Unternehmen aber auch eine genügend kleine Komplexität, damit in den Unternehmen eine Kommunikation möglich ist. Wählen wir den Maßstab auf einer Zeitachse ausreichend groß erkennen eine stete Komplexitätserhöhung, sowohl der Eigen- als auch der Fremdkomplexität. Fortschritt in der Entwicklung, und dem sind wir aufgrund der Problem-Lösungs-Spirale ausgesetzt, bedeutet Komplexitätserhöhung. Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen auf einem höheren Level, für die wiederum Lösungen gefunden werden wollen. Wählen wir den Maßstab auf einer Zeitachse ausreichend klein erkennen wir aber in gewissen Zyklen immer wieder Komplexitätsminimierung innerhalb der Unternehmen. Diese Minimierung geschieht Lösungs- und Entscheidungsprozess. Hier muss Komplexität reduziert werden, um zu abstrahieren und sich zu fokussieren. Bestimmte Themen werden ausgegrenzt, die aber beim Agieren entlang der Lösung natürlich nicht ausgegrenzt bleiben, sondern Auswirkungen in die Unternehmen zurück spiegeln. Mit den getroffenen Entscheidungen, die nach dem Handeln Auswirkungen nach sich ziehen, wird die Komplexität in der Umwelt erhöht, aber auch im Unternehmen, da wie gesagt die Einflüsse der Umwelt in die Unternehmen reflektiert werden. Wenn man sich die Komplexität mal als Graph über die Zeit vorstellt, haben wir es also schematisch mit einer Wellenlänge zu tun, die kontinuierlich größer wird. Das habe ich in meinem Post Muss man einen Wettlauf mit der Komplexität eingehen?.
Mit Strategien definiert ein Unternehmen einen Regelraum, in dem es agieren möchte. Dadurch wird aber nicht der Regelraum der Umwelt, jedenfalls nicht sofort, berührt. Durch diesen Regelraum setzt das Unternehmen einen Fokus auf bestimmte Dinge, intern als auch extern, und blendet andere aus. Durch dieses Ausblenden verschwinden diese Dinge aber nicht, sondern sind immer noch da, nur eben nicht in dem Wahrnehmungsfenster der Unternehmenslenker. Das bedeutet also, dass man durch Setzen von Strategien die Eigenkomplexität des Unternehmens verringert, die Fremdkomplexität, also die der Umwelt, bleibt erst einmal konstant. Dieses Verringern ist notwendig, damit das Unternehmen überhaupt existieren kann. Damit wird die Identität des Unternehmens bestimmt. Wofür steht das Unternehmen und wofür nicht. Hier setzt man einen langfristigen Fokus. Ist der Regelraum, der durch eine Strategie gesetzt wird, allerdings zu eng gefasst, geht Agilität und Flexibilität des Unternehmens verloren. In diesem Fall ist die Eigenkomplexität des Unternehmens zu gering. Hier kommen die Taktiken ins Spiel. Durch Taktiken werden Strategien immer wieder validiert und auf die Probe gestellt und ggf. geändert. Taktiken haben einen kurzfristigen Fokus. Taktiken und die Strategie müssen aber im Einklang sein. Beim Ändern von Strategien spricht man dann von Changeprojekten. Changeprojekte haben die Aufgabe das Verhältnis von Eigen- und Fremdkomplexität des Unternehmens wieder in ein gesundes Verhältnis zu bringen. Das schafft man, in dem die Eigenkomplexität erhöht wird und in der Rückkopplung dadurch bestenfalls auch die Fremdkomplexität der Umwelt, also des Marktes, verringert wird. Wie gesagt ist das immer nur in einem kurzfristigem Zeitfenster zu beobachten. Mittel- und langfristig wird die Komplexität stets größer. Die großen Herausforderungen, die in Changeprojekten gehandhabt werden müssen und oft dazu führen, dass Changeprojekte nicht erfolgreich sind, sind größtenteils auf die Eigenkomplexitätserhöhung zurückzuführen. Sie sind aber wie gesagt notwendig. Die “goldene Mitte” bei der Definition von Strategien ist also gefragt. Ich glaube darüber machen sich Manager und Führungskräfte beim Definieren von Strategien keine Gedanken.
Hat ein Unternehmen keine Strategie und ist rein taktisch unterwegs, fehlt dem Unternehmen der Regelraum, in dem die Menschen agieren können. Sie haben beispielsweise keine gemeinsame allgemein verabschiedete Kommunikationsbasis und kein Zielbild vor Augen, welches sie gemeinsam verfolgen wollen. Jeder Einzelne ist dadurch natürlich in seinem Denken und Handeln extrem flexibel. Das Unternehmen ist dann aber nicht lebensfähig. Es herrschen chaotische Verhältnisse, da die Eigenkomplexität des Unternehmens zu hoch ist.
Eine der größten Herausforderungen in der heute global vernetzten Welt ist, dass Unternehmen auf immer schneller ablaufenden Veränderungen der Umwelt reagieren müssen. Eine Justierung der Eigenkomplexität im Rahmen von Changeprojekten muss in immer höher werdenden Frequenzen erfolgen. Strategien und Prozesse in Unternehmen müssen immer wieder validiert und angepasst werden, was letztendlich die Lebensfähigkeit von Unternehmen gefährdet. Nun stellt sich also die Frage, wie Unternehmen auf die Einflüsse der Umwelt adäquat reagieren können, ohne mit großem Aufwand und mittels Changeprojekte Strategien und Prozesse anzupassen. Hier kommt die Selbstorganisation ins Spiel. Die Schwierigkeit besteht nun aber darin, dass man Selbstorganisation nicht verordnen und bis ins letzte Detail definieren kann. Klar, sonst wäre es keine Selbstorganisation mehr. Selbstorganisation kann man nur durch entsprechende Regelräume begünstigen, die von der Unternehmensführung definiert werden. In diesen Regelräumen haben die Mitarbeiter der Unternehmen dann genügend Freiraum sich zu organisieren.
Anregungen für Selbstorganisation kann man in der Natur finden, speziell am menschlichen Körper. Wenn uns Menschen warm ist, fangen wir an zu schwitzen. Es gibt zentrale Instanz im menschlichen Körper, die dieses Schwitzen anordnet. Wir müssen uns das Schwitzen auch nicht bewusst vornehmen. Es geschieht einfach als Reaktion auf den Temperaturanstieg in der Umwelt. Ähnlich verhält es sich wenn die Temperatur in der Umwelt sinkt. Dann wird das Blut zum Wärmen vorrangig in die Organe gepumpt, die die Lebensfähigkeit des Menschen sichern. Unsere Finger und Zehen fangen mitunter an zu frieren, da hier nicht mehr so Blut ankommt. Auch das müssen wir uns nicht bewusst vornehmen.
Ein soziales System beschreibt Stafford Beer, Begründer der Managementkybernetik, mit dem Modell des lebensfähigen Systems, dem Viable System Model (VSM). Das VSM beschreibt Interaktions- und Kommunikationswege, welche Informationsverarbeitung in Echtzeit gewährleistet und damit erst Lebensfähigkeit ermöglicht.
Laut dem VSM lenkt ein System 1 eigenständige Operationen mit der Umwelt. Ein System 2 gleicht durch einen Informationskanal Oszillationen bei Anpassungsversuchen der Systeme 1 aus. Für die Ressourcenzuteilung und die interne Optimierung ist ein System 3 zuständig. Die Umweltinteraktion, Beobachtung und Simulierung möglicher Zukunft übernimmt ein System 4. System 5 ist die oberste Lenkungshierarchie, welche das Selbstverständnis entwickelt und Entscheidungen trifft, die die Ausrichtung des VSM bestimmen. Jedes System 1 beinhaltet wieder ein VSM, in dem gelenkt, abgestimmt und optimiert wird. Daran erkennt man sehr eindrucksvoll den fraktalen Aufbau des Modells. Lenken wird im VSM wie folgt verstanden. Einschränken oder Erhöhen von Varietät, also der Möglichkeiten. Das ist gleich bedeutend mit dem Erhöhen oder Senken der Eigenkomplexität des Unternehmens. Es wird sich aufeinander abgestimmt, so dass alle das tun können, was sie können. Wie bereits angedeutet hat sich Beer bei der Erstellung dieses Modells an lebende Systeme, wie dem Menschen angelehnt. Nachfolgend möchte ich dies an den Basiselementen des menschlichen Systems verdeutlichen.
System 1 steht für eine Gemeinschaft als auch für ein Individuum. Es ist individuell, autonom, liberal und selbstorganisiert. Eine Gemeinschaft ist geprägt durch eine individuelle Zusammensetzung. Das menschliche Gehirn ist auch aus vielen einzelnen Arealen zusammengesetzt. Es bedarf daher einer Abstimmung untereinander, welche überhaupt erst eine Gemeinschaft oder das Denken ermöglicht. Eine koordinierende Funktion übernimmt System 2. Es hat die Funktion, über die anderen Gemeinschaftsmitglieder etwas zu erfahren oder mit ihnen etwas zu erleben. Beim Menschen ist es das Nervensystem bzw. im Gehirn die Synapsen. System 3 stellt eine optimierende Funktionseinheit dar und hat die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft bzw. des Menschen im Auge. Das optimierende Element hält die Lebensfähigkeit aufrecht und möchte das Potenzial sichern. Beim Menschen selbst sind es Aktivitäten, die aus Willen und Zwängen resultieren, beispielsweise die Nahrungsaufnahme. Ein Mensch bzw. eine Gemeinschaft ist immer wieder in einer größeren Gemeinschaft eingebunden und auf diese angewiesen. Um sich zu versorgen oder um Aufgaben nachzugehen, sind daher Aktivitäten und Austauschbeziehungen mit anderen Gemeinschaften notwendig. Dazu muss mit Zukunft umgegangen werden. Dies erledigt System 4. Die Identität wird durch das eigene bzw. gemeinsame Wertverständnis bestimmt und zeigt sich in den Zielen, Visionen oder Kulturen, welche der Mensch bzw. die Gemeinschaft verfolgt bzw. lebt. Diese Ziele werden immer wieder erneuert und angepasst, was Aufgabe von System 5 ist.
Die oben dargelegten Zusammenhänge zum VSM habe ich einer wie ich finde sehr genialen Schautafel entnommen, die einer meiner Wegbegleiter auf meiner Reise des Verstehens, Alexander Tornow, entwickelt hat. Weitere Details zum VSM können Sie beim Malik Management Zentrum St. Gallen nachlesen.
Wollen Unternehmen die immer größer werdende Komplexität handhaben, ein Beherrschen wird niemals möglich sein, sind Changeprojekte im herkömmlichen Gewand keine Lösung. Eine mögliche Lösung umfasst die Selbstorganisation. Ein Modell zum Operationalisieren von Selbstorganisation ist das Viable System Model (VSM).
Der von mir im Post angesprochene Wegbegleiter meiner Reise hat mir als Reaktion auf den Post ein sehr schönes Beispiel gesendet, an dem deutlich wird, dass Strategien auch immer nur stets personenbezogen sein können. Die Anmerkungen möchte ich hier gerne zitieren.
Dieser Aspekt ist u.a. sehr wichtig, wenn Strategien von Unternehmen definiert werden.
Lieber Conny,
ich finde es immer wieder sehr bereichernd, bei Dir zu stöbern. Im Moment kaue ich auf der Idee der “Minimum Viable Organization” (http://blog.projektmensch.com/2015/12/09/the-minimum-viable-organization/) rum und erkenne einige gedankliche Parallelen. Allerdings aus einer erfrischend anderen Perspektive. Mal schauen, was das mit mir macht.
In Sachen Strategie arbeiten wir übrigens gerne mit einer erweiterten Strategielandkarte (http://blog.projektmensch.com/2010/10/07/machtiges-werkzeug-die-strategielandkarte/, ist allerdings nicht mehr ganz der Stand unseres Tuns), über die uns – wie ich finde – die Bewusstmachung und Visualisierung unserer Gedanken gut gelingt.
Beste Grüße
Holger
Moin Holger, danke für Dein Feedback. Ich werde mir die Strategielandkarte mal zu Gemüte führen. Wir sind nämlich bei uns gerade im ähnlichen Kontext unterwegs. Da lasse ich mich gerne inspirieren. BG, Conny