Komplexität und Sprache: Der Versuch einer Definition

Ich möchte heute in diesem Beitrag den Versuch einer Begriffsdefinition von “Komplexität” vornehmen und dabei gleichzeitig erörtern, warum das Fühlen und Erfahren von Komplexität ganz eng mit unseren sprachlichen Mitteln zu tun hat und damit etwas rein Subjektives ist. Dabei möchte ich nicht thematisieren, wie Komplexität entsteht, sondern unter welchen Umständen wir Menschen wie Komplexität fühlen.

Die Realität an sich ist für uns nicht wahrnehmbar. Wir benutzen zur Wahrnehmung der Umwelt stets Modelle. Ohne Modelle kann kein Leben existieren. Die sensorischen Rezeptoren des Menschen – egal ob sie Druck, Geschmack, Licht, Wärme, Klänge, Geräusche etc. absorbieren – nehmen ausschließlich die Intensität, nicht aber die Natur der Erregungsursache auf. Das bedeutet, die Nervenzellen des Menschen – übrigens aller anderen Lebewesen auch – kodieren die Quantität der Erregung (stark, mittel, schwach, …), aber nicht die Qualität. Eingängiger als Heinz von Foerster es in seinem Buch Wissen und Gewissen formuliert hat, geht es meines Erachtens nicht. Deshalb möchte ich Ihn zitieren.

…da draußen gibt es nämlich in der Tat weder Licht noch Farben, sondern lediglich elektromagnetische Wellen; da draußen gibt es weder Klänge noch Musik, sondern lediglich periodische Druckwellen der Luft; da draußen gibt es keine Wärme und keine Kälte, sondern nur bewegte Moleküle mit größerer oder geringerer durchschnittlicher kinetischer Energie usw.

Jeder Mensch entdeckt die Welt aus seiner subjektiven Sicht. Statt “Entdecken” möchte ich eigentlich genauer “Konstruieren” sagen. Dinge wie der Tisch oder der Stuhl sind in der Umwelt vorhanden. Das kann man natürlich nicht absprechen, was die Konstruktivisten auch nicht tun. Wir geben diesen Dingen aber erst eine Bedeutung, die aus unserer Erziehung, Bildung, Kultur etc. resultiert und verknüpfen diese Bedeutung mit Symbolen, nämlich der Sprache, um uns mit anderen Subjekten, die ebenfalls in der Umwelt existieren, auszutauschen. Durch das Zuschreiben der Bedeutung, konstruieren wir unsere Umwelt. Wir schreiben den Dingen (Objekten) und auch den anderen Menschen (Subjekten) unserer Umwelt eine Bedeutung zu. Das ist wichtig, um die Umwelt überhaupt wahrzunehmen. Das bedeutet, das Wahrnehmen hängt essentiell von der von uns verwendeten Sprache ab. Deshalb kann man auch nicht die Frage beantworten, ob wir unsere Umwelt eigentlich real und vollständig wahrnehmen können. Wir beschreiben nämlich immer nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist für uns unfassbar, da diese nicht beschreibbar und somit nicht wahrnehmbar ist. Das bedeutet, die Sprache bestimmt zu einem großen Bestandteil unseren Wahrnehmungs- und damit auch Denkprozess. Objektivität gibt es nicht. Details können Sie gerne in meinem Aufsatz Ist Objektivität eine Illusion? nachlesen.

Es ist ja noch vertrackter, denn es ist ja nicht nur so, dass wir die Signale , die wir aus der Umwelt empfangen, auf Basis unserer internen Modelle transformieren. Nein, wir können physiologisch gesehen gar nicht alle Signale der Umwelt aufnehmen. Das für Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich der elektromagnetischen Strahlung von 380−780 nm Wellenlänge. Menschen hören Schwingungen zwischen 20 und 20000 Hz. Das menschliche Auge nimmt pro Sekunde 10 Mio. Bits Daten auf, davon werden nur 40 Bits vom Gehirn für den Menschen unbewusst verarbeitet. Das menschliche Ohr nimmt pro Sekunde 100 Tsd. Bits Daten auf, davon werden nur 30 Bits vom Gehirn für den Menschen unbewusst verarbeitet.

Bestimmt Sprache also auch die Art und Weise, wie und ob wir Probleme und Themen als komplex einstufen? Klar. Geht ja gar nicht anders, wenn wir den ersten Sätzen dieses Beitrages Glauben schenken. Dementsprechend interessant wäre es dann ja, Komplexität über die Verfügbarkeit von sprachlichen Mitteln zu definieren. Dazu kommen wir gleich.

Wir können also nicht die komplette Umwelt, die um uns umgibt, erkennen. Und den Bereich, den wir erkennen, transformieren wir auch noch über unsere internen Modelle. Und genau diese internen Modelle sind essentiell im Umgang mit Komplexität, denn diese internen Modelle sind verantwortlich für Möglichkeiten der Beschreibung unserer Umwelt. Also sollten wir auch vorsichtig sein mit dem Satz: “Dieses Thema ist komplex.” Wir sollten eher formulieren “Ich empfinde dieses Thema als komplex.” In diesem Falle ist es dann wohl so, dass mir nicht die notwendigen sprachlichen Mittel zur Verfügung stehen, um beispielsweise ein Thema zu beschreiben. Oder diese gibt es schlicht weg noch gar nicht. Denn wenn ich etwas beschreiben kann, kann ich es auch lösen.

Kommen wir also zu den sprachlichen Mittel. Damit meine ich nicht nur unsere natürlich Sprache, sondern beispielsweise auch die mathematische Sprache. Und in diesem Kontext möchte ich den Begriff Komplexität definieren. Beziehen möchte ich mich hier wieder auf Heinz von Förster. Er definiert in diesem Kontext drei Kennzahlen.

  1. L(A): Länge der Anzahl der Elemente innerhalb einer Anordnung A, die mit einer Berechnungsvorschrift beschrieben werden sollen. Beispiel: Alle geraden Zahlen 0, 2, 4, 6, …
  2. L(B): Länge der Beschreibung B von A, die benötigt wird um die Anordnung der Elemente A vollständig explizit zu beschreiben. Beispiel für alle geraden Zahlen: Dn+1 = 2∗Dn für n = 0, 1, 2, … mit D0 = 0
  3. N: Anzahl der Zyklen, die benötigt werden um die Anordnung der Elemente A aus ihrer Beschreibung B zu berechnen.

Mit Hilfe dieser Kennzahlen definiert von Förster drei Begriffe. Als erstes die Ordnung. Gilt L(A) > L(B), also die Beschreibung der Anordnung der Elemente A ist viel kleiner als die Anordnung der Elemente A selber, dann sprechen wir von Ordnung. Im oben aufgeführten Beispiel mit den geraden Zahlen ist das der Fall. Von Förster sprocht deshalb von Ordnung, weil wir ein gewisses Wohlsein verspüren, da wir recht einfach wahrgeneommene Erfahrungen der Umwelt beschreiben und deshalb auch beherrschen können. Als zweites definiert von Förster das Gegenstück von Ordnung, nämlich Unordnung. Von Unordnung sprechen wir, wenn die Länge der Beschreibung L(B) sich der Länge der Anordnung der Elemente L(A) annähert, also L(A) ≈ L(B). Ist man beispielsweise mit der Mathematik nicht so vertraut, würde das obige Beispiel der geraden Zahlen “unordentlich” erscheinen. Denn man würde die folgende Beschreibung B definieren: “Schreibe erst die 0, dann die 2, dann die 4 usw. usf.”. L(B) wäre sehr groß und würde sich L(A) von der Mächtigkeit her angleichen. Als letztes kommen wir zum Begriff der Komplexität.

N gibt ja die Anzahl der Zyklen, die benötigt werden, um die Anordnung der Elemente A mithilfe der Beschreibung B zu berechnen, wieder, ist also ein Maß für die Kompliziertheit und Komplexität. Bei meiner Interpretation weiche ich ein wenig von der von Försters ab. Ist N endlich spreche ich von Kompliziertheit, die mit steigendem N größer wird. Ist N unendlich spreche ich von Komplexität. Von Förster beispielsweise definiert den Begriff Kompliziertheit nicht. Wie wir am obigen Beispiel der geraden Zahlen gesehen haben, ist Ordnung und Unordnung, und damit auch die Einstufung in komplex und kompliziert, abhängig von der Sprache, die uns zur Verfügung steht. Komplexität ist nichts Gott Gegebenes. Menschen drücken ihre Wahrnehmungen durch Sprache aus. Sprache ist ein von Menschen kreiertes Konstrukt. Komplexität wird durch den Menschen in der Beschreibung einer Situation erst erzeugt und ist immer im Kontext zu den Problemen und Situationen und zu den benutzten Sprachmitteln zu sehen.

Das sollte man sich noch einmal langsam und genüsslich auf der Zunge zergehen lassen. Komplexität wird von Menschen erfunden. Falls Sie diesen Fakt noch nicht so ganz glauben möchten, gebe ich Ihnen einige weitere Beispiele dazu.

  1. Für Schüler der dritten Klasse ist die Aufgabe “4 geteilt durch 3” in der Regel nicht lösbar. Erst mit der Einführung der rationalen Zahlen, also dem Erweitern des Raumes der sprachlichen Mittel, verlässt diese Aufgabe die Ebene der Komplexität.
  2. Ähnlich verhält es sich mit der Einführung der komplexen Zahlen. Ab diesem Zeitpunkt lassen sich aus negativen Zahlen die Quadratwurzel ziehen.

Kompliziertheit und Komplexität bilden auf einem gedachten Strahl ein Kontinuum ab. Verweisen möchte ich in diesem Kontext auf Gerhard Wohland, der Kompliziertheit und Komplexität ebenfalls in Beziehung setzt. Jedes Thema oder Problem hat stets beide Anteile, komplexe und komplizierte. Es gilt also die zu lösenden Aufgaben und Probleme in komplizierte und in komplexe Anteile zu zerlegen. Für die komplizierten Anteile gibt es, da man diese Anteile sprachlich beschreiben kann, Rezepte für eine Lösung. Die Lösung lässt sich programmieren und an Maschinen vermitteln. Für die komplexen Anteile gibt es eben keine Rezepte, da man keine Beschreibung findet. Die Lösung lässt sich nicht programmieren und damit auch nicht auf Maschinen verteilen. Hier ist der Mensch gefragt. Deshalb tituliert Wohland die komplexen Anteile auch als “lebendig” und die komplizierten als “tot”. Dieses Interview mit Wohland zu diesem Thema kann ich Ihnen wärmstens empfehlen.

Des Weiteren möchte ich auf die von mir immer wieder wahrgenommenen Kategorienfehler hinweisen, die im Kontext von komplex und kompliziert geschehen. Für diese Reflektion möchte ich auf das bekannte Cynefin-Modell verweisen und dieses aus meiner Sicht notwendigerweise erweitern, da es zu Kategorienfehler zwischen Kompliziertheit und Komplexität verleitet. Nach diesem Modell werden die Kategorien “einfach”, “kompliziert” und “komplex” auf eine Ebene platziert. Das ist aus meiner Sicht nicht passfähig. Die Einstufung “einfach” und damit auch “schwierig”, die es im ursprünglichen Modell nicht gibt, existiert eine Ebene höher in beiden Kategorien, “kompliziert” und “komplex”. “Einfach” ist also nicht gleich “einfach”.

“Einfach” in der Kategorie “kompliziert” bedeutet, dass die Kennzahl N, siehe oben, relativ klein ist. Je größer N wird, desto “schwieriger” wird das komplizierte Problem. Für “komplexe” Fragestellungen ist die Kennzahl N, wie oben ausgeführt, unendlich. Es liegt keine Beschreibung im Raum der zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel vor. Es kann damit auch kein Wissen existieren, welches in Form eines Rezeptes zu einem Lösungsweg geformt werden kann. Denn Wissen zu einem Thema kann nur existieren, wenn wir etwas Beschreibbares zu diesem Thema vorliegen haben. Hier sind Erfahrung und Talent essentiell. Je größer oder kleiner Erfahrung und Talent sind, desto eher ziehe ich dann die Einwertungen “einfach”, “schwierig” oder “chaotisch” in der Kategorie komplex heran. Details zu der von mir vorgenommenen Erweiterung des Cynefin Modells können Sie in diesem Beitrag nachlesen.

Man erkennt also, dass die Sprache, also wie wir Probleme oder Situationen beschreiben, extremen Einfluss auf die Lösung des Problems hat. Diese Reflektion möchte ich zum Abschluss auf den derzeitig in vielen Unternehmen stattfindenden digitalen Wandel spiegeln. Eine Herausforderung besteht nämlich darin, dass Begriffe für das Beschreiben des Neuen verwendet werden, die noch mit einer Bedeutung aus dem Bestehenden belegt sind. Möchte man einen Wandel forcieren, sollte man entweder Begriffe verwenden, die es im Bestehenden noch gar nicht gibt, und die man dann natürlich neu definieren muss. Oder man verwendet die bereits bekannten Begriffe, die dann allerdings in der Bedeutung umdefiniert oder erweitert werden müssen. Gute Beispiele sind hier die Begriffe “Planung” oder “Konzept”. Egal welchen Weg man geht, aufmerksame und empfängerorientierte Kommunikation ist essentiell. Dafür ist der Umgang mit den sprachlichen Mitteln extrem erfolgskritisch. Beachtet man den Fakt nicht und benutzt Begriffe aus dem Bestehenden ohne Reframing, kann es passieren, dass sinnvolle Aktivitäten wie Planung oder Konzeptionierung im Neuen verpöhnt und damit verbannt werden, was fatal wäre. Wie wichtig Sprache für das Denken für uns Menschen ist habe ich in diesem Beitrag gezeigt.

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19 Responses to Komplexität und Sprache: Der Versuch einer Definition

  1. Thomas Braun says:

    Danke für die Auslegeordnung – tut gut.

  2. Pingback: [Reise des Verstehens] Komplexität und Sprache: Der Versuch einer Definition

  3. Vielen Dank für diesen – wie immer – profunden Artikel, Conny.

    Ich sehe eine Schwierigkeit in der deutschen Alltagssprache im Wort “einfach”.
    Ich behelfe mir mit einem Spiel über Bande, indem ich in diesem Kontext Worte aus dem Englischen zur Hilfe nehme.

    Die Durchdringung einer Situation, die komplexe und komplizierte Anteile enthält, stelle ich mir wir eine Bergwanderung vor.

    Zu Beginn erscheint es (oftmals) einfach im Sinne von “easy”.
    Dann untersucht man die Situation genauer und separiert die komplexen Anteile des Nicht-Wissens (roter Pfad).
    Wetter, vorheriger Lawinenabgang, Zustand der Wandergruppe von Ausrüstung und Verpflegung.

    Nun geht es darum, dieses Nicht-Wissen in einem eng umrissenen Zeitraum in Wissen, bezogen auf den KONKRETEN Kontext zu überführen.
    Das ist dann der Aufstieg auf den Berg.

    Das geht durch Teilen (“share”) von Daten, die für uns selbst keine Informationen darstellen, da sie nur für den Empfänger einen bisher unbekannten Neuigkeitswert besitzen KÖNNEN.
    Wir selbst gewinnen Informationen von den Gruppenmitgliedern durch FRAGEN und PRÜFEN.

    Am Ende der Phase des Teilens ergibt sich ein größeres und genaueres Bild (Berg) als zu Beginn des Teilens.
    Nun wird unterschieden, welche Daten in Bezug auf ein Vorhaben (Erklimmen des Gipfels) Relevanz besitzen.

    Vorsicht:
    Die Mitteilung, ein Familienmitglied eines Teilnehmers sei krank kann erhebliche Relevanz entwickeln, wenn dieser Teilnehmer bei der Seilsicherung mit den Gedanken bei seinen Angehörigen ist!

    Sie werden dann iterativ zur geteilten, gemeinsamen Vision in Beziehung gesetzt.
    Vision wäre in diesem Bild:
    “Wir WOLLEN die Erfahrung gewinnen, wie es ist, JETZT (oder sehr bald) DIESEN Berg zu erklimmen und heil wieder zurückkehren.”)

    Alle Abweichungen vom angestrebten Ziel-Zustand (neuer Status quo: wir sind wohlbehalten und voller Erfahrung zurückgekehrt) werden dann in der Reihenfolge der gemeinsam bestimmten Wichtigkeit bearbeitet, bis (temporäre) Endgültigkeit eintritt.

    Der Aufstieg ist “hard” iSv. “difficult”, währen die Umsetzung (der Abstieg) “nur noch anstrengend (“stressing”) ist.

    Wenn wir wissen, wie es ist oben auf dem Berg zu stehen, brauchen wir “nur noch” den Weg ins Tal zu bestimmen und diesen konsequent bis zum Erfolg weiterzugehen.

    Nachdem wir unsere Vision in die Tat umgesetzt haben, erscheint uns das Vorhaben simpel im Vergleich zu den zurückliegenden Zwischenschritten.

    Je häufiger wir das tun, desto geringer schätzen wir die Schwierigkeit.
    Das ist die Gefahr bei Erfahrungswissen, weil wir jetzt dazu neigen, die vor uns liegende Aufgabe als “einfach” im Sinne von “easy – schon n Mal gemacht” anzusehen.

    Dabei werden dann gern die komplexen Anteile irrtümlich als komplizierte Anteile wahrgenommen.
    Wir projizieren aus unserem Erfahrungswissen die Methodenkenntnis auf die Situation und neigen dann dazu, die an sich abweichende Situation als Wiederholung von etwas bereits Gemeisterten anzusehen.

    So kommt es bspw., dass wir überall nur noch Nägel sehen, sobald wir einen Hammer beherrschen.
    Da hilft es, möglichst viele abweichende Situationen erlebt zu haben, um festzustellen, dass ein Schraubendreher manchmal zielführender ist.
    Oft kommt man auch mit beidem zu einem zufriedenstellenden Ergebnis.
    In Bezug auf das Werkzeug (die Methoide) gibt es richtig oder falsch.
    Allerdings in der fachgerechten Anwendung.

    Die sachgerechte Anwendung bestimmt, ob ein Werkzeug zur Zielerreichung besser oder weniger gut geeignet ist.

    Vor dem übereilten Griff zum Hammer soll ein Ratschlag aus den asiatischen Philosophien und vor allem Kampfkünsten schützen.
    Dort heißt es, man soll sich den ANFÄNGER-G-E-I-S-T bewahren.

    Also, jede Situation so WAHRNEHMEN als erlebten wir sie zum ersten Mal.
    Und wenn wir ehrlich zu uns sind, dann ist das auch jedes Mal so.

    Nur mit dem Unterschied, dass mit zunehmenden Erfahrungswissen unser Werkzeugkasten praller gefüllt ist.
    Wir haben nicht nur einen Hammer, sondern auch einen Schraubendreher, einen Schlagschrauber, einen Akkubohrer einen Druckluft-Nagler und vieles mehr.

    Und diese Werkzeuge verschleißen mit der Zeit und brauchen hin und wieder eine Wartung (iSv. Überprüfung) und ggf. Instandsetzung (bspw. Schärfung oder neue Kohlen für den Elektromotor).

    Und je mehr Werkzeuge wir beherrschen, umso mehr erscheint uns jede Situation als
    “same, same, but different …”

    Den generischen Bauplan für menschliche, kommunikative Interaktion habe ich up2U-Protokoll genannt.
    https://up2u.blog/about

    Er hilft solange, bis alle Beteiligten im Meisterstadium angekommen sind.
    Dann geht es nur noch darum, die Statue, die schon immer in diesem Marmorblock war, von dem umliegenden Stein zu befreien, der sie verdeckt …

    In diesem Sinne:
    Mögen all unsere Bedürfnisse in der Realität verschwinden.
    😉

    • Moin Moin Alexander,

      ganz lieben Dank für Deine umfassende Response. Sehr cool. 🙂

      Ich stimme hier voll mit Dir überein. Auch wenn für mich komplexe Situationen genau deshalb komplex sind, weil uns sprachliche Mittel fehlen diese zu beschreiben, müssen wir trotzdem ins Handeln kommen. Für dieses Handeln bedienen wir uns dann einem “Werkzeugkasten”. Die sprachlichen Mittel sind in meinen Augen Bestandteil dieses Werkzeugkastens. Das heißt, auch wenn die komplexen Situationen für uns nicht beschreibbar sind, müssen wir diese doch irgendwie beschreiben. Wäre das nicht der Fall würden wir erstarren. Eine Handlung bleibt ohne Beschreibung stets aus. Hier ist allerdings die Haltung wichtig, diese Beschreibung immer wieder sorgfältig zu überprüfen und damit dann natürlich auch seinen “Werkzeugkasten”. Dieser Aspekt fehlt mir häufig beim Handhaben von komplexen Situationen.

      BG, Conny

  4. Volker Murmann says:

    Ich sehe keinen überzeugenden Grund, dass “Die Realität an sich”, das kantische Ding-an-sich überhaupt existiert. Wieso wird diese Hilfs-Konstruktion “an sich” überhaupt benötigt? Was wäre, wenn nur unsere “Konstruktion” existiert ? Könnte es sein, dass nur unsere Art der Welterfassung existiert ? Wäre sie dann weniger wert oder weniger gültig? Ist dieses “An-sich” nicht nur ein Platzhalter für den “Anspruch”, dass sich die Menschheit als Ganzes, als Einheit zu verständigen habe.
    Da draußen “ist”, schwer erträglich, “Nichts” oder “Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen” (Heinz von Foerster) . In dieser Erkenntnis fußt meiner Ansicht nach auch der Existenzialismus.

  5. Steffen Hermanni says:

    Hallo Herr Dethloff,
    vielen Dank für den interessanten und anregenden Beitrag. Es gibt ein paar Punkte, die ich gerne kommentieren möchte:
    • Zur Abgrenzung „komplex“ und „kompliziert“: ich finde viele Aussagen, die die Wahrnehmung von kompliziert (und nicht von komplex) davon abhängig machen, inwiefern Fachwissen vorhanden ist, z.B. hier:
    https://de.wiktionary.org/wiki/kompliziert oder hier: http://soldel.de/2015/01/23/cynefin/ oder hier:
    http://www.leanovate.de/blog/noch-kompliziert-oder-schon-komplex-systeme/ oder hier:
    http://www.wandelweb.de/galerie/13_Cynefin/index.php
    • Zu „komplex“: Komplex beschreiben Sie hier meines Erachtens– wie auch Gerhard Wohland – als unerwartet/ungeplant, nicht deterministisch, „lebendig“. Das entspricht nicht dem Verständnis, das in der Systemtheorie vorherrscht: Die Zuordnung der Eigenschaft „komplex“ erfolgt genau dann, wenn die entsprechende Person in dem betrachteten System oder Modell diese Eigenschaften wahrnimmt: indirekte und nicht-lineare Ursache-/Wirkungsbeziehungen mit Rückkopplungen und Zeitverzügen. (Systeme 2. Art gemäß Fitz B. Simon, wie auf Ihrer Homepage dargestellt). Nicht jedes unerwartete Ereignis in z.B. einer Uhrenproduktion passt dazu. Meines Erachtens sind diese Eigenschaften objektiv, allerdings hängt die Wahrnehmung davon ab, wie die Systemgrenzen definiert sind und wie genau der Beobachter hinsieht.
    • Alles, was Sie über die Interpretation von Komplexität schreiben, fände ich passender zu Kompliziertheit
    • Als Symbolik finde ich grafische Darstellungen (Technische Zeichnungen, Stücklisten, Systemmodelle,…) für viele komplexe oder komplizierte Sachverhalte besser geeignet als natürliche Sprache. Ich glaube, das sehen Sie auch so.
    • Das Beispiel für die Einstufung der Aufgabe „4 geteilt durch 3“ ist meines Erachtens schlicht eine Frage der mathematischen Fähigkeiten (leicht oder schwer) und nicht eine Frage nach kompliziert und komplex, weil es nicht um diverse verknüpfte Elemente geht
    • Ich finde, dass man komplexe Themen durchaus beschreiben kann, allerdings in Form eines Modells, also nicht eindeutig vollständig der Wirklichkeit entsprechend
    • Zur Kennzahl „N“ nach Heinz von Foerster: meines Erachtens ist sie unendlich bei chaotischen Systemen, bei komplexen ist sie groß, vielleicht „überabzählbar endlich“ (wie Sand am Meer)
    • Zum Thema Wissen: ich finde die Unterscheidung nach explizitem (beschriebenem) und implizitem Wissen hilfreich. Menschen mit implizitem Wissen in Form von Talent und Erfahrung können sehr wohl Probleme lösen, die anderen als „schwierig“, „kompliziert“ oder „komplex“ erscheinen – auch wenn das Wissen nicht dokumentiert ist.
    • „Einfach“: ich finde eine Unterscheidung nach „einfach zu verstehen“ und „einfach, damit umzugehen“ bzw.“ einfach, ein Problem zu lösen“ hilfreich. Nach meinem Verständnis sind komplexe Systeme nicht einfach zu verstehen, aber einfach zu steuern, weil relativ wenige Faktoren relativ viel Einfluss haben (siehe dazu auch Theory of Constraints)
    • Warum müssen Methoden monokontextural sein? Warum dürfen Methoden nicht im Reich der Komplexität angewendet werden? Ich vermute, der Hintergrund ist, dass Sie Methoden und Algorithmen gleich setzen. Das kann man auch anders sehen, z.B. so: eine Methode ist genau dann ein Algorithmus, wenn sie vollständig deterministisch ist

    Bitte beachten Sie, dass ich respektiere, dass es viel leichter ist Thesen zu kritisieren als solche aufzustellen. Sie haben meine Hochachtung für den spannenden Blog!

    • Hallo Herr Hermanni,

      ganz lieben Dank für Ihre ausführliche Replik. Ich verstehe diese nicht als “Rumnörgeln” oder “Besserwisserei”. Ganz im Gegenteil. Lernen und Erkenntnisgewinn entsteht für mich nur dann, wenn Menschen mir mit Argumenten belegt widersprechen. Deshalb ganz herzlichen Dank dafür.

      BG, Conny Dethloff

  6. Björn Czybik says:

    Sehr cooler Artikel. Der musste erstmal noch wirken ;-). Mir kam die Verbindung zu Modellierungssprachen, Programmiersprachen usw.
    Wenn ich dich richtig verstehe, dann haben wir nie die Möglichkeit Komplexität darzustellen, insbesondere den lebendigen Teil vom komplexen nicht.
    Mittels sprachlicher Mittel wie Modellierungstechniken (mathematische, UML, BPMN usw.) können wir einen Teil beschreiben (kompliziert), mittels Programmiersprachen oder auch Hardwarebeschreibungssprachen (VHDL usw.) können wir wieder einen Teil beschreiben oder auch mittels Informationsmodellierung (XML, Jason usw.).
    Den “toten” Teil können wir also beschreiben. Wenn das technische System live geangen ist und der Kunde es nutzt, kommt wieder das lebendige ins Spiel, dass was wir nicht beschreiben können.
    Liebe Grüße
    Björn

  7. Martin says:

    Ein schöner Artikel. Er zeigt mir, dass es da draußen durchaus ähnlich denkende Menschen gibt. Das gibt mir Anstoß, mich wieder ein mit den Themen Kontruktivismus, Systemik, und Assoziertes zu beschäftigen.

    Als Wirtschaftsinformatiker möchte ich in Bezug auf “Spache” etwas beitragen. Das werden an dieser Stelle keine neuen Erkenntnisse sein, aber vielleicht ergänzen sie etwas, oder betrachten das Thema aus einem weiteren, möglichen Blickwinkel.

    … Zur Schnittfläche “Informationsmodelle”:
    Letztlich betrachte ich Modelle (der Informatik) als Materialisierungen komplexer (mentaler) Systeme.
    Solche Modelle sind linguistische Artefakte, weil sie durch Sprache konstruiert sind: Mit Modellierungssprachen, die selbst rekursiv aus Meta-Sprachen konstruiert werden; und diese Meta-Sprachen werden am Ende selbst durch natürliche Sprache konstruiert / definiert (schließlich sind sie “menschgemacht”). Natürliche Sprache kann so als archetypisch für jede Informationsmodellierung betrachtet werden. Es steht und fällt also mit der Natürlichsprachlichkeit. Natürliche Sprachen (und erst recht technische Modellierungssprachen) können keinen Absolutheitsanspruch erheben, weil jeder Organismus als lebendes System seine Welt selbst interpretieren und lernen muss. Begriffe werden durch Lernen geprägt und im kognitiven System integriert. Etwas absolut Vorgegebnes gibt es da nicht (vgl. biologische Lerntheorie). Ein neuronales Netz, sei es “künstlich” oder “natürlich”, ist im Ursprung ein System ohne Zusammenhänge (vielleicht gibt es einen rudimentären Konnex, aber diesen abstrahiere ich an dieser Stelle weg). Das kognitive System ist in einem kontinuierleichen Lernprozess eingebunden. Ich denke, das ist das, was du in deinem Artikel mit “lebendig” meinst.
    Die Modelle, die wir als schaffende Konstrukteure mit der Umwelt kommunizieren, sind in dem Sinne “tot”, als dass sich die “lebendigen” Systeme (in uns selbst) ständig verändern. Die (re-)konstruierten Modelle können so lediglich einen Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt, zu einem bestimmten Zweck abbilden. Der äußere Rahmen ändert sich aber kontinuierlich, und deswegen können solche kommunizierten Modelle nie (theoretische) Letztgültigkeit erlangen.
    Wenn ein Modell in einem bestimmtem Kontext funktioniert, muss es nicht unbedingt in einem anderen Kontext funktionieren. Ein Geschäftsprozessmodell etwa kann für eine Organisation XY prima funktionieren, für Organisation QP ist es hingegen weniger brauchbar. Der Anspruch der Wissenschaft, organisationsübergreifende Referenzmodelle zu “erfinden” ist oft auch mit der Aussicht verbunden, Letztgültigkeiten zu (er-)finden. Die kann es so aber nicht geben, wenn wir voraussetzen, dass wir in einer komplexen Welt leben. Eine komplizierte Welt hingegen würde ja mit trivialen Modellen abbildbar sein.

    … Zur Schnittfläche mit Ethik:
    Das Denken in Systemen und in Dynamiken führt mich immer auf den “Boden der Tatsachen” zurück. Wenn ich die Welt als einen Ort des Relativen (Komplextitäten) betrachte und Absolutheiten (Kompliziertheiten) hinterfrage, dann wird deutlich, dass die Wahrheit im Kontext der Gegenwart zu suchen ist, in der ich selbst ein Teil bin. Und dann wird auch verständlich, warum das Denken in Dogmen eher fern liegt, wenn man Komplexität holistisch, multiperspektivisch zu betrachten versucht.
    Letztlich ist es wesentlich, dass wir verstehen, wie wir verstehen, und dass wir dann im Dialog miteinander kommunizieren, um die Grenzen zwischen unseren Welten zu überbrücken, und auch, um neue mögliche Welten durch eine gemeinsame Sprache zwischen uns zu zu entdecken. Das klingt vielleicht idealistisch und utopisch und fern der Realität (was ist das?); Aber zumindest darüber zu reflektieren, macht die Welt ein wenig lebenswerter (hier: meine Welt, und vielleicht auch deine) .

    • Hallo Martin, wow, danke für Deine extrem gehaltvolle Antwort. Lass uns gerne weiter im Austausch bleiben, vielleicht insbesondere zu einem derzeit laufenden Projekt, in welchem ich mit einigen Wegbegleitern auf meiner Reise des Verstehens Komplexität eingehend untersuche und darauf aufbauend dann passfähige Werkzeuge und Methoden diskutiere und ggf. neu definiere. BG, Conny

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  12. Hallo Herr Dethloff,

    vielen Dank für den sehr interessanten Beitrag.
    War für mich nochmal ein guter Blick auf den Konstruktivismus.

    Der Konstruktivismus hat die Sinneseindrücke von außen nach innen geholt (schönes Zitat von HvF), nur erscheinen sie außerhalb, aufgrund des in der Welt handelnden Individuums. Die Handlung sollte man nicht vergessen, damit wird der Sender/Empfänger- oder Bild/Abbild-Dualismus überflüssig und dem Solipsismus die Grundlage entzogen.
    Wenn Wohland tot mit kompliziert und lebendig mit komplex verbindet, hat er vollkommen recht. Ich würde aber nicht von einem komplizierten und einem komplexen Anteil sprechen. Klingt als wären das Teile eines Ganzen. Ich sehe Komplexität eher als einen Prozess von interagierenden Individuen. Die Kompliziertheit wäre dann Resultat und Teil des Prozesses. Oder etwas anschaulicher: Wenn Leute in eine Diskussion gehen, ist erstmal alles offen, dann werden im Laufe der Diskussion Ergebnisse erarbeitet, die mehr oder weniger kompliziert sein können. Dabei führt Sprache zu einer unglaublichen Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Individuuen und macht damit auch viel kompliziertere Ergebnisse möglich.

    Toller Blog. Sehr beeindruckend.

    Enrico Tropschug

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