Dialog zum Thema Burnout

Ein sehr aktiver Wegbegleiter meiner Reise des Verstehens, Sascha Meyer, hat mich vor geraumer Zeit zu einer Diskussion zum Thema Burnout eingeladen. Nachfolgend möchte ich Ihnen diesen anreichen.

S. Meyer

Sehr geehrter Herr Dethloff,

bitte entschuldigen Sie, aber ich suche Sie auf, da ich einige Fragen bei der Lektüre einiger philosophischer Texte für mich habe. Sollten Sie ggf. Zeit und Lust haben, mir bei der Beantwortung dieser Fragen behilflich – im Sinne eines Gedankenspiels- zu sein, würde ich mich sehr freuen.

Ich habe im Philosophiemagazin 5/12 von dem Philosophen Byung-Chul Han gelesen, dass die neoliberale Leistungsethik ein wichtiger Faktor für das Phänomen “Burnout” sei. Dabei wirke diese Ethik dergestalt, dass es sich nicht wie bei Marx um Fremdausbeutung handele, sondern um Selbstausbeutung, die durch ein Ungleichgewicht zwischen Negativität und Positivität, zwischen Selbstliebe und der Liebe gegenüber Anderen, die zwangsläufig in einer Depression enden müsse, hervorgerufen werde. Die Negativität hieße hierbei auch Begrenzung entgegen einer Gesellschaft, in der “alles möglich ist” und “du kannst” als einiges Credo der Werbewirtschaft gelte.

Die digitale Vernetzung bedeute seiner Meinung nach eine Entgrenzung, eine “Temporalität der Transparenzgesellschaft”, in der Informationsstau nicht mehr geduldet werde. Aber Visionen brauchen Zeitstau, gelegentlich Stillstand und Innehalten.

Könnte dies vielleicht die Antwort auf die Frage darstellen, warum wir trotz der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, die wir zur Lösung unserer heutigen Fragen haben, nahezu hilflos vor den Fragen unserer Zeit stehen?

Vielen Dank und freundliche Grüße,
Sascha Meyer

C. Dethloff

Hallo Herr Meyer,

anbei meine Reflektion. Ich möchte erst einmal die Geschichte der Menschheit in Zeitraffer und auf 2 verschiedenen Ebenen aus meiner Sicht aufgreifen.

Makrolevel
Als erstes möchte ich auf die Makroebene eingehen. Gotthard Günther hat in Anlehnung an die Ausarbeitungen Oswald Spenglers in seinem berühmten Werk Der Untergang des Abendlandes darauf immer wieder Bezug genommen, beispielsweise auch in seiner Ausarbeitung Maschine, Seele und Weltgeschichte. Auf der Seite 15 dieses Dokumentes, beginnend mit den Worten “… An dieser Erfahrung entwickelt sich ein neuer Menschentyp. …”, können Sie die Ideen und Gedanken Günthers dazu nachlesen, die ich nachfolgend kurz in meinen Worten wiedergeben möchte.

  1. Die primitive Epoche
  2. Die Epoche der regionalen Hochkulturen
  3. Die Epoche der universellen planetaren Kultur

In der primitiven Epoche haben die Menschen Naturereignisse mit Magie und Zauberei erklärt. In dieser Zeit haben die Menschen die Vorgänge in der Natur noch nicht auf sich selbst reflektiert. Ausdruck dieser Magie waren unter anderem die Medizinmänner. Angst vor den Ereignissen in der Natur war unter den Menschen vorherrschend. Diese Epoche war damit 1-wertig. In der zweiten Epoche, die der regionalen Hochkulturen, wurden die Ursache-Wirkungsbeziehungen eingeführt. In dieser hat man versucht alle Ereignisse in der Natur rein rational zu erklären. Unsicherheiten wurden aus der Wahrnehmung gestrichen. In dieser Epoche hat man also den Gegenpol zur ersten Epoche betreten, von absoluter Unsicherheit hin zu absoluter Sicherheit. Diese Methode hat sich als sehr erfolgreich erwiesen, allerdings nur für nichtlebende Vorgänge. Ihren Höhepunkt hatte diese Epoche wohl mit dem Irrglauben des französischen Mathematikers Laplace, der eine Formel erfinden wollte, mit der die Welt erklärbar ist. Es wurde die Angst vor der Natur abgestreift, weil alle Vorgänge scheinbar erklärbar waren. Diese Epoche war und ist damit 2-wertig. Aristoteles hat diese mit seiner Logik geprägt. Es wurde dann der Übergang in die dritte Epoche eingeleitet, die noch in den rudimentären Anfängen steckt. In dieser werden die Ursache-Wirkungsbeziehungen mit Unsicherheiten und Wahrscheinlichkeiten unterlegt. Das bedeutet, es werden Subjektivitäten eingeführt und somit die Modellierung von Vorgängen lebender Organismen möglich gemacht. Komplexität bekommt jetzt eine besondere Bedeutung. Diese Epoche ist mehrwertig. Das bedeutet, die notwendige Logik ist standpunktabhängig und mit der bekannten Mathematik, die auf der 2-wertigen Logik beruht, nicht mehr formalisierbar.

Mikrolevel
Wenn man nun die Flughöhe ein wenig reduziert erkennt man auf kleineren Zeitscheiben einige Muster. Diese habe ich in meinem Post Muster der Gesellschaftskrisen thematisiert.

Reflektion auf Ihre Fragen
Bevor ich auf Ihre Fragen eingehen möchte, möchte ich etwas Allgemeines zu Burnout sagen.

Das Thema Burnout ist in der jetzigen Zeit ein sehr präsentes Thema. Ich finde allerdings schwierig, Burnout in die Vergangenheit zu projizieren und zu fragen, ob die Menschen erst in unserer heutigen Zeit damit konfrontiert werden. Auf der einen Seite kann man über ein Thema erst dann nachdenken und darüber diskutieren, wenn es ein Begriff für das Thema gibt. Ohne Begriff bleibt das Thema ein blinder Fleck. Des Weiteren hat die Sensibilität für den Faktor “Mensch” erst in den letzten Jahren so richtig Einzug gehalten, vor allem in der Wirtschaft. In diesem Zuge wurde dann auch der Begriff “Burnout” geschaffen. Vielleicht hatten die Menschen in der Vergangenheit auch Ermüdungs- und Ermattungserscheinungen. Diese wurden aber stets auf etwas Physisches zurück geführt. Ebenfalls haben Ärzte auch erst mit dem Kreieren des Themas “Burnout” die Möglichkeit in diese Richtung zu forschen und Menschen zu untersuchen. Dementsprechend bin ich vorsichtig damit zu behaupten, dass Burnout erst im Zuge unserer schnelllebigen Welt entstanden sein soll.

Wir befinden uns aus meiner Sicht in der Phase 5 (Gesetze/ Steuerlast – Unruhen). Unsere Volkswirtschaften haben die Sättigungsphase erreicht. Sie können nicht mehr so stark wachsen, wie sie eigentlich müssten um die Kosten des Zinses der Finanzwirtschaft zu decken. Das wird auch wahrgenommen, weshalb auch versucht wird regulatorisch einzugreifen. Allerdings passiert das mit Mitteln, die erst in die Krise geführt haben. Dann verfährt man nach dem Motto “Immer mehr von dem Gleichen” (vgl. Dietrich Dörner: Logik des Misslingens).

Aus der Phase 2 nehmen wir den Mindset mit, dass Menschen die Natur beherrschen können (“Alles ist möglich”, “Du kannst”). Wenn wir also etwas nicht schaffen, kann das nur an uns liegen. Ich würde hier nicht so sehr die Begriffe Fremd- und Selbstausbeutung bemühen. Grundsätzlich kann es aus meiner Sicht keine direkte Fremdausbeutung geben. Ich bin hier ein Anhänger des Konstruktivismus. Menschen reagieren auf Umweltbedingungen. Unsere Umweltbedingungen entstehen aus dem Umstand, dass wir den Gipfel der Pyramide erreicht haben (Sättigungsphase des Wachstums der Volkswirtschaften). Wir müssen uns neu erfinden, aber mit anderen Mitteln. Da diese Paradigmen nicht umgestoßen werden, erleben wir eine Ausweglosigkeit und reagieren gehetzt und scheinen keine Zeit mehr zum Verschnaufen zu haben. Hier finde ich das Sprichwort „Wenn Du in Eile bist gehe langsam angebracht.“ In dieser Art und Weise sehe ich auch die Unterscheidung in Positivität und Negativität. Derzeit gaukeln wir uns die unbegrenzten Möglichkeiten wegen der scheinbaren Berechenbarkeit der Natur (Phase 2 nach Gotthard Günther) nur vor. Wir erkennen diese Unbegrenztheit derzeit noch nicht. Vielleicht sperren wir uns auch, da diese Erkenntnis natürlich Unsicherheit und Angst erzeugen kann.

Wie ist Ihre Sicht?

Beste Grüße,
Conny Dethloff

S. Meyer

Sehr geehrter Herr Dethloff,

ich würde gerne die Kategorisierung in drei Epochen auf dem Makrolevel zurückkommen. Ich sehe die dort eingeführte Differenzierung, dass unsere Gesellschaft “rationaler” geworden ist als schwierig an, da dies meines Erachtens nur auf der Seite der “Eliten” und im begrenzen Rahmen der wissenschaftlichen Forschung sowie der unternehmerischen Umsetzung erfolgt ist. In der “normalen” Bevölkerung sehe ich eigentlich keine Weiterentwicklung. Wir reagieren immer noch relativ unrational, wenn es um neue, gesellschaftskritische wissenschaftliche Forschungsergebnisse handelt sowie im Umgang mit Minderheiten doch auch ziemlich irrational.

Beste Grüße,
Sascha Meyer

C. Dethloff

Hallo Herr Meyer,
lassen Sie mich den Begriff Rationalität näher erläutern und dann in Relation zur Emotionalität setzen.

Unter Rationalität verstehe ich die Fähigkeit Gründe anzugeben. Wenn wir Menschen also sagen: “Ich habe rational gehandelt.”, müssen wir in der Lage sein, diese Handlung über Ursache-Wirkungsbeziehungen zu begründen. Hier möchte ich ein bisschen weiter hinein bohren.

Als erstes bemühe ich den Wahrheitsbegriff. Über diesen habe ich in meinem Logbuch des Öfteren geschrieben, beispielsweise in meinem Post Lässt sich über Wahrheit wahr sprechen?. Wenn Sie also beurteilen müssen, ob ich zu einem bestimmten Kontext rational gehandelt habe, müssen wir zu diesem Kontext den gleichen Wahrheitsanspruch, denn einen absoluten gibt es nicht, und das gleiche Wissen um die Herleitung dieses Wahrheitsanspruches haben. Haben wir das nicht, sagen Sie wahrscheinlich mit Recht, dass ich nicht rational, also irrational, gehandelt habe. An dieser Stelle kann ich ihren Ausführungen folgen.

Nun kommt aber noch der Fakt hinzu, dass wir Menschen derzeit nicht alles rational erklären können, es aber gerne wollen, um unseren Herrschaftsanspruch gegenüber der Natur zu untermauern. Das ist dann der Antrieb unserer Wissenschaft. Diesem Antrieb schuldend, wird in der Wissenschaft auch gerne verschleiert und gemauert. Denn immer dann wenn wir Phänomene nicht über Ursache-Wirkungsbeziehungen erklären können stoßen wir ins Reich des Irrationalen vor und dieses wird gerne heraus reduziert. Dazu reiche ich Ihnen gerne einen Artikel namens Kritik der Systemtheorie, Systembiologie, Kybernetik, Chaostheorie, Spieltheorie. In diesem Fall stoßen wir also ebenfalls ins Reich des Irrationalen vor. Hier aber auf einer höheren Ebene als oben beschrieben. Denn dieses Reich des Irrationalen ist auf Konsens aufgebaut. Diese Ebene, so interpretiere ich es, meint Gotthard Günther, wenn er von der Phase 2 spricht.

An dieser Stelle macht es auch Sinn über das Verhältnis von Emotionalität und Rationalität nachzudenken. Hier stoßen wir auf die Frage, ob Gefühle auch Quelle rationaler Gewissheit sein können und wenn ja, auf welche Art und Weise? Dazu habe ich vor geraumer Zeit einen genialen Artikel im Netz gefunden.

Wie sind ihre Gedanken dazu?

Beste Grüße,
Conny Dethloff

S. Meyer

Sehr geehrter Herr Dethloff,

Vielen Dank für Ihre Erläuterungen zum Begriff der Rationalität. Ich stimme Ihren Erläuterungen dergestalt zu, dass diese einen großen und wichtigen Teil des Verhaltens von Menschen in der Gesellschaft ausmachen.

Sie haben den Begriff der Rationalität berechtigter Weise in den Kontext des Wahrheitsbegriffes gebracht. Interessanter Weise gibt es gerade auf dem Forum “Philosophie – wertvoller Grundstoff unseres Lebens” eine interessante Diskussion auf Xing unter Leitung von Frau Petra Deckart. Dabei ist die Wahrheit nie als absoluter Begriff zu sehen (ähnlich wie Begriffe wie Gerechtigkeit, Freiheit etc. obwohl diese Begriffe in der Philosophie häufig als absolute bezeichnet werden).

Rationalität steht immer im Kontext der Emotionalität. Schon die Hirnforschung hat nachgewiesen, dass es keine Reizverarbeitung nur über den Neokortex gibt. Die Reizverarbeitung verläuft je nach Art der Beanspruchung immer über mehrere Zentren. Dabei spielen unter anderem meistens das limbische System, mithin die Amygdala und der Hippocampus eine entscheidende Rolle. Der Hippocampus lenkt unsere Wahrnehmung dergestalt, dass wir Vorgänge vereinfachend in “gut” und “schlecht/ böse”, “angenehm/ unangenehm” etc. unterschieden. Dies hilft zum einen für schnelle Entscheidungssituationen. In der Steinzeit etc. mussten Jäger Situationen schnell einschätzen.

Andererseits verbauen wir uns über diese auf unbewusste, automatisierte Reaktionsmuster ausgerichteten Abläufe eine tiefere Auseinandersetzung mit komplexeren Entscheidungssituationen. Beispiel: Auf einem Wochenmarkt rechnen wir überschlägig durch vergleichende Berechnungen, welche Produkte an welchem Stand am günstigsten sind. Bei einer komplexeren Forschungsarbeit ist hingegen zu berechnen, welche Entscheidungsmodelle (z.B. zur Einführung eines neuen Verkehrsleitsystems) unter ökonometrischer Sicht am sinnvollsten sind. (Schreibe ich hier am effektivsten = Outputsteuerung oder am effizientesten = Inputsteuerung?). Im letztgenannten Fall ist ein genaueres, das bewusste Denken umfassendes, Reflektieren erforderlich. U.a. hat diese Unterscheidung der Wirtschaftsnobelpreisträger und Psychologe Daniel Kahnemann in seinem Buch Langsam Denken-Schnell Denken beschrieben. Er zeigt an anschaulichen Beispielen, dass unbewusstes automatisiertes Denken das bewusste Denken beeinflusst, aber auch über bewusste Reflektion entstandene neue Sichtweisen in unbewusste Reaktionsmuster übernommen werden können.

Als weiteres Beispiel möchte ich das Priming bei IATs (Implicit Assosiation Tests) nennen. Hier wird versucht, den Probanden z.B. Bilder wie mit dunkelhäutigen Menschen mit einem “e” für “böse” und hellhäutige Menschen mit “i” für “gut” zu prägen. Diese geschieht in einer schnellen (Millisekunden) Abfolge von Bildern, in denen die bewusste Aufnahme von Bildern nicht erfolgen kann. Die Forschungsergebnisse konnten zeigen, dass viele Personen sich von dem Priming in der Folge in der Beurteilung von anderen Bildern beeinflussen ließen. Diese Methoden werden u.a. im Neuromarketing eingesetzt.

Was hat dies mit dem Thema Rationalität zu tun? Ich glaube, dass wir in der Tat nur aus der Erkenntnis von Emotionalität rationales Denken entstehen lassen können. Wir müssen aber uns unserer Beeinflussbarkeit durch äußere Einflüsse bewusst sein. Der Ökonom Tomas Sedlacek hat in seinem Buch Die Ökonomie von Gut und Böse den Zusammenhang von ökonomischen Grundannahmen wie den der unsichtbaren Hand (Gott), dem Homo Oeconomicus (Mensch) und den Lebensgeistern (animal spirits) beschrieben. Ohne den Verfasser auf eine dogmatische Sichtweise zu reduzieren, möchte ich kurz den von dem Verfasser dargelegten Zusammenhang zwischen ökonomischen Gesetzen, die auf rationalen Gedanken zu basieren scheinen, und religiösen Grundannahmen (eher von der Emotion geleitet), die in der heutigen Gesellschaftsordnung dazu führt, dass wir nicht von diesen in sich verändernden Konstellationen von Gesellschaft abweichen können. Die ökonomischen Grundannahmen haben nach Ansicht des Verfassers (dem ich mich partiell anschließe), die Konstruktion von religiösen Annahmen, die nicht hinterfragt werden, angenommen.

Ich möchte nun zu meiner Ausgangsthese zum Burnout unserer Gesellschaft zurückkommen. In der Lehre des Strategischen Managements habe ich in der Ausbildung zum Rating Advisor in einem Lehrheft gelesen, dass es eine Unterscheidung zwischen der Subkultur eines Unternehmens und der proklamierten öffentlichen Kultur (ausgedrückt im Strategiepapier und in den Leitlinien sowie in der Unternehmensphilosophie) gibt. Wenn die Subkultur (die eigentlichen Machtträger des Unternehmens) und die offiziellen Entscheidungsträger zu unterschiedliche Werte leben, Informationen sich gegenseitig vorenthalten (Moral Hazard), dann kann ein Unternehmen nicht effizient arbeiten. Es entstehen Auseinandersetzungen. Man sucht nach “Schuldigen”. Die findet man meistens in den unteren Angestelltenebenen, die schnell “abbaubar” sind.

Meine These ist, dass man dieses Bild auf die “Staatsebene” übertragen kann, da es meines Erachtens viele Beispiele in der Geschichte gibt, die dies zu rechtfertigen scheinen. Als ein Beispiel möchte ich die “Kriegszitterer” aus dem 1. Weltkrieg nennen, die als “Simulanten” und “Kriegsverweigerer” bezeichnet wurden, nennen.

Ich stimme Ihnen voll zu, dass der Begriff Burnout neu ist, aber ich bin der festen Überzeugung, dass es in der Geschichte viele Beispiele für Burnouts gegeben hat. Franz Kafkas “Bericht an eine Akademie” und Joseph Roths “Radetzkymarsch” sowie Dostojewskis “Schuld und Sühne” haben in ihren Büchern wunderbar über Ausgrenzung von Menschen, Suche von Schuldigen (meistens bei den Schwächeren) und über Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse, die zum Schaden aller ist, geschrieben.

Ich finde Ihre Definition von Rationalität völlig überzeugend und erstrebenswert, glaube aber, dass es noch viel Überzeugungsarbeit benötigt, um diesen wirklich in der Gesellschaft (Was immer das ist?) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Freundliche Grüße
Sascha Meyer

C. Dethloff

Hallo Herr Meyer,

Ihre Ausführungen zum Beziehungsgeflecht zwischen Rationalität und Emotionalität kann ich voll nachvollziehen. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Können Sie Ihre Beispiele (Franz Kafkas “Bericht an eine Akademie”, Joseph Roths “Radetzkymarsch” und Dostojewskis “Schuld und Sühne”) zum Thema Burnout noch einmal näher erläutern und dabei den Zusammenhang von Burnout und Ausgrenzung von Menschen sowie Suche von Schuldigen genauer herstellen?

Ich möchte Ihnen zwei meiner Gedankengänge zum Thema Burnout anreichen.

Zum einen fühlen sich Menschen unter Stress, wenn ihre eigen gestellten Erwartungen an eine bestimmte Situation und ihre Wahrnehmung von dieser Situation sehr weit auseinander liegen. Für beide Seiten, Erwartung und Wahrnehmung, ist direkt der Mensch alleine verantwortlich. Sie merken sicherlich, dass es in die gleiche Richtung geht, die ich in meiner ersten Antwort bereits formuliert habe. Stress ist also etwas rein Subjektives. Dieser Stress führt dann dazu, dass der Mensch Energie aufbringt, diese Kluft zwischen Erwartung und Wahrnehmung zu schließen. Der menschliche Körper befindet sich in solchen Phasen quasi in einem Alarmzustand. Nun ist natürlich die Frage in wie weit der Mensch trotz dieser Alarmbereitschaft die Kluft schließen kann. Das hängt natürlich in hohem Maße von den Rahmenbedingungen ab, in denen der Mensch sich bewegt. Hat er zu wenig Freiraum, um aktiv zu gestalten und damit seine Erwartungen zu treffen, die sich dann in der Wahrnehmung niederschlagen, wird der menschliche Körper eine Art Notfallprogramm starten, die da heißen Flucht, Angriff oder Starre. Dieses Notfallprogramm sichert das kurzfristige Überleben. Da Flucht und Angriff in einer Gesellschaft meistens nicht zielführend sind, ist Starre das Ergebnis, was wir als Burnout bezeichnen. In Phasen des Burnouts ist der Körper also in Alarmbereitschaft, aber handlungsunfähig, ähnlich wie wenn man in einem Auto sitzt und gleichzeitig Vollgas gibt und auf die Bremse tritt.

Jetzt habe ich eben bereits eine Maßnahme gegen Burnout genannt. Menschen benötigen Freiraum zum Gestalten. Sie müssen diesen Freiraum aber auch an- und wahrnehmen. Das bedeutet, hier kommen wieder Grundzüge des Konstruktivismus zum Tragen. Menschen müssen ihre Rolle in ihrer Umgebung richtig einschätzen lernen. Sie müssen die Fähigkeit besitzen, zu erkennen, was es wert ist erreichen zu wollen und auch zu können. Sie müssen also in bestimmten Situationen auch mal loslassen können.

Diese Darlegung bestätigt mich in der These, dass es auch früher schon Burnout gegeben hat, wir nur jetzt in der heutigen Zeit einen Begriff für dieses Phänomen gefunden haben.

Ich möchte das Thema Leistung ins Spiel bringen und damit ein bisschen provokant werden. Im Dialog zwischen Richard David Precht und Christian Lindner zum Thema Gerechtigkeit, Fairness und Freiheit spricht Precht davon, dass das Ideal der Leistungsgerechtigkeit nicht erstrebenswert sein darf, unabhängig davon ob dies praktisch möglich wäre oder nicht. Denn dies würde voraussetzen, dass Leistung objektiv messbar wäre, was es nicht ist. Aber ich möchte dieses Gedankenexperiment fortsetzen. Gäbe es Leistungsgerechtigkeit würde man den Menschen die Ausreden für ihre, wenn es denn so wäre, missliche Lebenslage nehmen. In diesem Fall sind sie komplett verantwortlich für die Lage, in der sie sich befinden. Gäbe es diese Leistungsgerechtigkeit nicht, und das nehme ich in unserer Gesellschaft so wahr, können Menschen ihre Misslichkeit anderen Gründen, die sie scheinbar nicht ändern können “unterjubeln”. Damit entledigen sie sich der Verantwortung, auch wenn dies nur konstruiert ist, aber es beruhigt das Gewissen. Wenn sie diese Rolle, die sie sich zuschreiben, dann auch noch richtig in ihre Umgebung einordnen, können sie sich ebenfalls gegen Burnout schützen. Durch diesen Schutz mindert man aber auch seine Erwartungen an sein eigenes Leben.

Bedeutet das also, und nun komme ich zu meiner Provokation, dass Gerechtigkeit das Risiko Burnout zu bekommen steigert?

Beste Grüße,
Conny Dethloff

Sascha Meyer

Ich kann Ihre Gedankengänge zum Burnout, der Stressentstehung und dem Zusammenhang zum Konstruktivismus voll nachvollziehen und diesem voll zustimmen. Ich habe hierzu mein erstes Buch, das ich über Burnout gelesen habe (Bevor der Job krank macht von Prof. Unger aus der psychiatrischen Abteilung der Asklepios Klinik Hamburg-Harburg), wunderbar nachvollziehbar schon einmal durchdenken können. Der Zusammenhang zwischen Eustress (positiv empfundener Stress) und Distress (negativ empfundener Stress) wurde dort anschaulich an Beispielen beschrieben. So hat dort ein Beamter von seiner persönlich als schwer belastende Situation gesprochen, da sein Chef ihm ständig Aufgaben übertrage, die ihn unterforderten und bei Entscheidungen ihn regelrecht “sitzen lasse” und nach außen hin der “Prügelknabe” der Bürger sei, die die mangelnde Entscheidungsfreudigkeit dem “armen” Sachbearbeiter anlasteten. In diesem Fall war der Burnout vorprogrammiert, da der Betroffene sich nicht mehr als “Herr der Lage” sah, die Widersprüchlichkeiten nach außen aber immer wieder abfedern musste. Hingegen war in einem anderen Fall von einem Manager die Rede, der nicht nur acht Stunden (wie der Beamte) arbeitete, sondern 10 bis 12 Stunden (mit Erreichbarkeit im Privatleben), dies aber als Erfüllung ansah, da er einen zumindest gefühlten Einfluss auf den Erfolg seiner Tätigkeit hatte.

Hierin sehe ich den entscheidenden Unterschied. Natürlich ist das Leben vielfältig und dies sind nur zwei sehr konträre Konstellationen. Die Vereinfachung soll nur modellartig zeigen, dass es sich um persönlich empfundenen Stress handelt, der sich einerseits aus den äußeren Einflüssen, andererseits aus der persönlichen, individuellen Konstitution des Betroffenen zusammensetzt. Die persönliche Konstitution ist wiederum zum großen Teil entstanden aus dem Umgang mit äußeren Einflüssen, der Interaktion mit Menschen, Institutionen etc. Dies nennen wir Sozialisation. Die Sozialisation ist gleichzeitig Begrenzung als auch die Möglichkeit der Freiheit des Willens. Warum Begrenzung? Weil wir uns einen Habitus aneignen, der sich daraus ergibt, dass die Interaktion mit unserem Umfeld uns prägt. Sprache, Ausdrucksformen (z.B. Kiezdeutsch vs. Gehobene Bildungssprache) bringt Ungleichheiten in den Startbedingungen unserer Bildungsgesellschaft. Freiheit des Willens durch Sozialisation entsteht nach Kant vor allem durch Bildung, da die Möglichkeiten der möglichen Gedanken potenziert werden. Rousseau setzt dem entgegen, dass Vernunft und Sinnlichkeit (heute heißt das Emotion) zusammengehören und dass wir im Prinzip schon als Kind alles in uns tragen. Durch Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen werden diese Ideen nur geweckt und bewusst gemacht.

Ich möchte an dieser Stelle Habermas ins Spiel bringen. Wir waren uns ja einig, dass Habermas kein Ethiker im eigentlichen Sinne ist. Nichtsdestotrotz hat er ja vertreten, dass ein Diskurs (wenn kein verständigungsorientiertes Handeln zwischen den Diskutanten zustande kommt) auf dem besseren Argument und symmetrischen Kommunikationsanteilen beruhe. Dies waren die Voraussetzungen einer idealen Sprechsituation. Diese Anteile seiner Theorie machen ihn für mich partiell zum Ethiker, weil er meines Erachtens hiermit “Diffamierung und Ausgrenzung” als Methoden des “Rechtbehaltens” im Diskurs ablehnt. Die Realität sieht aber anders aus. Der Mächtige setzt sich meistens eher durch als derjenige mit dem rational besseren Argument. Hier wird der Konstruktivismus, der uns zum Menschen macht, meines Erachtens ad absurdum geführt.

Ich möchte gerne zum Schluss in aller Kürze den Zusammenhang zu den drei von mir genannten Schriftstellern benennen. “Der Bericht an eine Akademie” v. Franz Kafka beschreibt einen Affen (fiktiv), der zum Menschen dressiert wurde. Dieser Affe beschreibt seinen Werdegang vom “Eingefangen werden” in Afrika über seine Lehrjahre der Domestizierung hin zu seiner Karriere als Professor. Diese Geschichte ist eine Metapher auf unsere Gesellschaft, wie scheinbar tierisches Verhalten, von dem Affen als kreativ-intuitiv beschrieben, uns Menschen nach und nach “abgewöhnt” werden und wir zu “Sklaven” der gesellschaftlichen Zwänge, Kultur und Ordnungen werden. Es steht nicht nur Kritik hinter dieser Geschichte, sondern es wird auch eine gewisse Notwendigkeit der “Erziehung” gesehen. Der Autor behält es dem Leser vor, weiter über die Notwendigkeit der Kultivierung zu reflektieren.

Der Umfang des “Radetzkymarsches” würde hier den Rahmen sprengen. Joseph Roth hat sich vor allem mit der KuK-Monarchie der Habsburger Monarchie ausgelassen. Er galt als “linker Revolutionär”, da er die starre Gesellschaft der auf Krieg und Ehre ausgerichteten Gesellschaft kritisierte. Seine Beschreibungen der frühen Jahre widmen sich vor allem den Kriegsgeschädigten, den Menschen, die z.B. im Krieg ihre Arme und Beine verloren hatten und dafür keine ausreichende Entschädigung vom Staat erhielten. Es spricht aber auch viel Enthusiasmus aus den Büchern Roths. Vor allem Ehre und der Wille sich am Wohl und Erfolg der Gesellschaft zu beteiligen, dies aber auch nicht angemessen gewürdigt werde.

“Schuld und Sühne” von Dostojewski ist ein sehr langes Werk, das sehr vielschichtig ist. Ich möchte hier nicht auf die spezielle Geschichte Russlands eingehen, sondern die Themen extrahieren, die für mich zum Thema passen. Es geht um einen Mord. Ein Mord, der aus einem moralischen Dilemma entsteht. Der Student Raskolnikow hat kein Geld, um seine Wohnung zu bezahlen. Der Student wendet sich an eine Pfandleiherin. Er hält die Pfandleiherin für eine “Halsabschneiderin”, da er in Erfahrung bringen konnte, dass diese viele andere Menschen ins Elend getrieben hat. Raskolnikow ist ein sehr intelligenter Mensch, der sich sehr wohl viele Gedanken um Moral, Anstand, Ehre macht. Dabei ist er besessen, aus seiner Armut, der Armut der Mutter und seiner Schwester, herauszukommen. Sein Anspruch, etwas Besonderes zu leisten und etwas Besonderes zu werden, verschaffen ihm gleichzeitig Schuldgefühle aufgrund seiner eigenen schwierigen Lebenssituation und gleichzeitig ein Gefühl, sich erheben zu dürfen gegen das aus seiner Sicht unmoralische Verhalten der Pfandleiherin. Aus dieser Konstellation entsteht ein Mordgedanke, der von einem Menschen mit einem umfangreichen moralischen Anspruch, dass ein solches Verhalten eigentlich ablehnen müsste, tatsächlich vollzogen wird.

Man muss zu diesem Werk sagen, dass es hauptsächlich um die Beschreibung des Zustandekommens eines solchen Mordes geht, vor allem unter den Voraussetzungen der sehr feudalisierten, ungerechten Gesellschaft im Zarenreich Russland. Im Prinzip ist dieses Werk ein Standardwerk für jeden angehenden Juristen, da es in dezidierter Weise Schuld, Schuldfähigkeit, Motivbeschreibung und -entstehung vereint und gleichzeitig die menschliche Seele vermisst. Die Beschreibungen des Autors passen auch sehr gut zu neuesten Forschungsergebnissen der Hirnforschung (Beispiel: Die Insular im Gehirn ist bei Gewaltverbrechern häufig nicht aktiv, dasselbe passiert bei Menschen mit geringem Schmerzempfinden.). Letztgenanntes hat nur bedingt etwas mit Burnout zu tun. Ich habe das Buch als Beispiel genommen, da es die “gefühlte Moral” ist, die “gefühlten Stress” auslöst und uns in eine Position des “Entweder oder” bringen kann. Reflektion und Konstruktivismus sieht aber anders aus. Somit kann das Buch ein Lehrbeispiel dafür sein, einen moralischen Anspruch auf sich zu beziehen und kreative andere Wege zu gehen.

Freundliche Grüße,
Sascha Meyer

C. Dethloff

Hallo Herr Meyer,

vielen Dank für die Anreichung Ihrer Gedanken und Ideen.

Dem gibt es aus meiner Sicht zum jetzigen Zeitpunkt nichts hinzuzufügen außer einer Empfehlung eines Buches von Peter Bieri namens Das Handwerk der Freiheit. In diesem Buch diskutiert der Autor das Thema Willensfreiheit am Beispiel des Werkes von Dostojewski “Schuld und Sühne” sehr detailliert und umfassend. Meine Gedanken dazu habe ich in meinem Post Kann ein freier Wille bedingt sein? reflektiert.

Beste Grüße,
Conny Dethloff

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1 Response to Dialog zum Thema Burnout

  1. Es freut mich sehr, dass ich auf Basis dieses Dialogs eine neue Begleiterin meiner Reise des Verstehens begrüßen darf. Es ist Frau Nicole Stoklossa. Auf Ihrer Homepage können Sie viele interessante Informationen zum Thema Burnout, Depression, Mobbing oder auch Coaching beziehen. Sie hat obigen Dialog auf Ihrer Page veröffentlicht.

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