{"id":3879,"date":"2017-08-28T06:00:12","date_gmt":"2017-08-28T05:00:12","guid":{"rendered":"http:\/\/blog-conny-dethloff.de\/?p=3879"},"modified":"2017-08-27T14:59:08","modified_gmt":"2017-08-27T13:59:08","slug":"komplexitat-und-sprache-der-versuch-einer-definition","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/blog-conny-dethloff.de\/?p=3879","title":{"rendered":"Komplexit\u00e4t und Sprache: Der Versuch einer Definition"},"content":{"rendered":"
Ich m\u00f6chte heute in diesem Beitrag den Versuch einer Begriffsdefinition von “Komplexit\u00e4t” vornehmen und dabei gleichzeitig er\u00f6rtern, warum das F\u00fchlen und Erfahren von Komplexit\u00e4t ganz eng mit unseren sprachlichen Mitteln zu tun hat und damit etwas rein Subjektives ist. Dabei m\u00f6chte ich nicht thematisieren, wie Komplexit\u00e4t entsteht, sondern unter welchen Umst\u00e4nden wir Menschen wie Komplexit\u00e4t f\u00fchlen.<\/p>\n
Die Realit\u00e4t an sich ist f\u00fcr uns nicht wahrnehmbar. Wir benutzen zur Wahrnehmung der Umwelt stets Modelle. Ohne Modelle kann kein Leben existieren. Die sensorischen Rezeptoren des Menschen – egal ob sie Druck, Geschmack, Licht, W\u00e4rme, Kl\u00e4nge, Ger\u00e4usche etc. absorbieren – nehmen ausschlie\u00dflich die Intensit\u00e4t, nicht aber die Natur der Erregungsursache auf. Das bedeutet, die Nervenzellen des Menschen – \u00fcbrigens aller anderen Lebewesen auch – kodieren die Quantit\u00e4t der Erregung (stark, mittel, schwach, …), aber nicht die Qualit\u00e4t. Eing\u00e4ngiger als Heinz von Foerster es in seinem Buch Wissen und Gewissen<\/a> formuliert hat, geht es meines Erachtens nicht. Deshalb m\u00f6chte ich Ihn zitieren.<\/p>\n …da drau\u00dfen gibt es n\u00e4mlich in der Tat weder Licht noch Farben, sondern lediglich elektromagnetische Wellen; da drau\u00dfen gibt es weder Kl\u00e4nge noch Musik, sondern lediglich periodische Druckwellen der Luft; da drau\u00dfen gibt es keine W\u00e4rme und keine K\u00e4lte, sondern nur bewegte Molek\u00fcle mit gr\u00f6\u00dferer oder geringerer durchschnittlicher kinetischer Energie usw.<\/p><\/blockquote>\n Jeder Mensch entdeckt die Welt aus seiner subjektiven Sicht. Statt “Entdecken” m\u00f6chte ich eigentlich genauer “Konstruieren” sagen. Dinge wie der Tisch oder der Stuhl sind in der Umwelt vorhanden. Das kann man nat\u00fcrlich nicht absprechen, was die Konstruktivisten auch nicht tun. Wir geben diesen Dingen aber erst eine Bedeutung, die aus unserer Erziehung, Bildung, Kultur etc. resultiert und verkn\u00fcpfen diese Bedeutung mit Symbolen, n\u00e4mlich der Sprache, um uns mit anderen Subjekten, die ebenfalls in der Umwelt existieren, auszutauschen. Durch das Zuschreiben der Bedeutung, konstruieren wir unsere Umwelt. Wir schreiben den Dingen (Objekten) und auch den anderen Menschen (Subjekten) unserer Umwelt eine Bedeutung zu. Das ist wichtig, um die Umwelt \u00fcberhaupt wahrzunehmen. Das bedeutet, das Wahrnehmen h\u00e4ngt essentiell von der von uns verwendeten Sprache ab. Deshalb kann man auch nicht die Frage beantworten, ob wir unsere Umwelt eigentlich real und vollst\u00e4ndig wahrnehmen k\u00f6nnen. Wir beschreiben n\u00e4mlich immer nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist f\u00fcr uns unfassbar, da diese nicht beschreibbar und somit nicht wahrnehmbar ist. Das bedeutet, die Sprache bestimmt zu einem gro\u00dfen Bestandteil unseren Wahrnehmungs- und damit auch Denkprozess. Objektivit\u00e4t gibt es nicht. Details k\u00f6nnen Sie gerne in meinem Aufsatz Ist Objektivit\u00e4t eine Illusion?<\/a> nachlesen.<\/p>\n Es ist ja noch vertrackter, denn es ist ja nicht nur so, dass wir die Signale , die wir aus der Umwelt empfangen, auf Basis unserer internen Modelle transformieren. Nein, wir k\u00f6nnen physiologisch gesehen gar nicht alle Signale der Umwelt aufnehmen. Das f\u00fcr Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich der elektromagnetischen Strahlung von 380\u2212780 nm Wellenl\u00e4nge. Menschen h\u00f6ren Schwingungen zwischen 20 und 20000 Hz. Das menschliche Auge nimmt pro Sekunde 10 Mio. Bits Daten auf, davon werden nur 40 Bits vom Gehirn f\u00fcr den Menschen unbewusst verarbeitet. Das menschliche Ohr nimmt pro Sekunde 100 Tsd. Bits Daten auf, davon werden nur 30 Bits vom Gehirn f\u00fcr den Menschen unbewusst verarbeitet.<\/p>\n Bestimmt Sprache also auch die Art und Weise, wie und ob wir Probleme und Themen als komplex einstufen? Klar. Geht ja gar nicht anders, wenn wir den ersten S\u00e4tzen dieses Beitrages Glauben schenken. Dementsprechend interessant w\u00e4re es dann ja, Komplexit\u00e4t \u00fcber die Verf\u00fcgbarkeit von sprachlichen Mitteln zu definieren. Dazu kommen wir gleich.<\/p>\n Wir k\u00f6nnen also nicht die komplette Umwelt, die um uns umgibt, erkennen. Und den Bereich, den wir erkennen, transformieren wir auch noch \u00fcber unsere internen Modelle. Und genau diese internen Modelle sind essentiell im Umgang mit Komplexit\u00e4t, denn diese internen Modelle sind verantwortlich f\u00fcr M\u00f6glichkeiten der Beschreibung unserer Umwelt. Also sollten wir auch vorsichtig sein mit dem Satz: “Dieses Thema ist komplex.” Wir sollten eher formulieren “Ich empfinde dieses Thema als komplex.” In diesem Falle ist es dann wohl so, dass mir nicht die notwendigen sprachlichen Mittel zur Verf\u00fcgung stehen, um beispielsweise ein Thema zu beschreiben. Oder diese gibt es schlicht weg noch gar nicht. Denn wenn ich etwas beschreiben kann, kann ich es auch l\u00f6sen.<\/p>\n Kommen wir also zu den sprachlichen Mittel. Damit meine ich nicht nur unsere nat\u00fcrlich Sprache, sondern beispielsweise auch die mathematische Sprache. Und in diesem Kontext m\u00f6chte ich den Begriff Komplexit\u00e4t definieren. Beziehen m\u00f6chte ich mich hier wieder auf Heinz von F\u00f6rster. Er definiert in diesem Kontext drei Kennzahlen.<\/p>\n Mit Hilfe dieser Kennzahlen de\ufb01niert von F\u00f6rster drei Begri\ufb00e. Als erstes die Ordnung. Gilt L(A) > L(B), also die Beschreibung der Anordnung der Elemente A ist viel kleiner als die Anordnung der Elemente A selber, dann sprechen wir von Ordnung. Im oben aufgef\u00fchrten Beispiel mit den geraden Zahlen ist das der Fall. Von F\u00f6rster sprocht deshalb von Ordnung, weil wir ein gewisses Wohlsein versp\u00fcren, da wir recht einfach wahrgeneommene Erfahrungen der Umwelt beschreiben und deshalb auch beherrschen k\u00f6nnen. Als zweites de\ufb01niert von F\u00f6rster das Gegenst\u00fcck von Ordnung, n\u00e4mlich Unordnung. Von Unordnung sprechen wir, wenn die L\u00e4nge der Beschreibung L(B) sich der L\u00e4nge der Anordnung der Elemente L(A) ann\u00e4hert, also L(A) \u2248 L(B). Ist man beispielsweise mit der Mathematik nicht so vertraut, w\u00fcrde das obige Beispiel der geraden Zahlen “unordentlich” erscheinen. Denn man w\u00fcrde die folgende Beschreibung B de\ufb01nieren: “Schreibe erst die 0, dann die 2, dann die 4 usw. usf.”. L(B) w\u00e4re sehr gro\u00df und w\u00fcrde sich L(A) von der M\u00e4chtigkeit her angleichen. Als letztes kommen wir zum Begri\ufb00 der Komplexit\u00e4t.<\/p>\n N gibt ja die Anzahl der Zyklen, die ben\u00f6tigt werden, um die Anordnung der Elemente A mithilfe der Beschreibung B zu berechnen, wieder, ist also ein Ma\u00df f\u00fcr die Kompliziertheit und Komplexit\u00e4t. Bei meiner Interpretation weiche ich ein wenig von der von F\u00f6rsters ab. Ist N endlich spreche ich von Kompliziertheit, die mit steigendem N gr\u00f6\u00dfer wird. Ist N unendlich spreche ich von Komplexit\u00e4t. Von F\u00f6rster beispielsweise de\ufb01niert den Begri\ufb00 Kompliziertheit nicht. Wie wir am obigen Beispiel der geraden Zahlen gesehen haben, ist Ordnung und Unordnung, und damit auch die Einstufung in komplex und kompliziert, abh\u00e4ngig von der Sprache, die uns zur Verf\u00fcgung steht. Komplexit\u00e4t ist nichts Gott Gegebenes. Menschen dr\u00fccken ihre Wahrnehmungen durch Sprache aus. Sprache ist ein von Menschen kreiertes Konstrukt. Komplexit\u00e4t wird durch den Menschen in der Beschreibung einer Situation erst erzeugt und ist immer im Kontext zu den Problemen und Situationen und zu den benutzten Sprachmitteln zu sehen.<\/p>\n Das sollte man sich noch einmal langsam und gen\u00fcsslich auf der Zunge zergehen lassen. Komplexit\u00e4t wird von Menschen erfunden. Falls Sie diesen Fakt noch nicht so ganz glauben m\u00f6chten, gebe ich Ihnen einige weitere Beispiele dazu.<\/p>\n Kompliziertheit und Komplexit\u00e4t bilden auf einem gedachten Strahl ein Kontinuum ab. Verweisen m\u00f6chte ich in diesem Kontext auf Gerhard Wohland, der Kompliziertheit und Komplexit\u00e4t ebenfalls in Beziehung setzt. Jedes Thema oder Problem hat stets beide Anteile, komplexe und komplizierte. Es gilt also die zu l\u00f6senden Aufgaben und Probleme in komplizierte und in komplexe Anteile zu zerlegen. F\u00fcr die komplizierten Anteile gibt es, da man diese Anteile sprachlich beschreiben kann, Rezepte f\u00fcr eine L\u00f6sung. Die L\u00f6sung l\u00e4sst sich programmieren und an Maschinen vermitteln. F\u00fcr die komplexen Anteile gibt es eben keine Rezepte, da man keine Beschreibung findet. Die L\u00f6sung l\u00e4sst sich nicht programmieren und damit auch nicht auf Maschinen verteilen. Hier ist der Mensch gefragt. Deshalb tituliert Wohland die komplexen Anteile auch als “lebendig” und die komplizierten als “tot”. Dieses Interview mit Wohland<\/a> zu diesem Thema kann ich Ihnen w\u00e4rmstens empfehlen.<\/p>\n Des Weiteren m\u00f6chte ich auf die von mir immer wieder wahrgenommenen Kategorienfehler hinweisen, die im Kontext von komplex und kompliziert geschehen. F\u00fcr diese Reflektion m\u00f6chte ich auf das bekannte Cynefin-Modell verweisen und dieses aus meiner Sicht notwendigerweise erweitern, da es zu Kategorienfehler zwischen Kompliziertheit und Komplexit\u00e4t verleitet. Nach diesem Modell werden die Kategorien “einfach”, “kompliziert” und “komplex” auf eine Ebene platziert. Das ist aus meiner Sicht nicht passf\u00e4hig. Die Einstufung “einfach” und damit auch “schwierig”, die es im urspr\u00fcnglichen Modell nicht gibt, existiert eine Ebene h\u00f6her in beiden Kategorien, “kompliziert” und “komplex”. “Einfach” ist also nicht gleich “einfach”.<\/p>\n “Einfach” in der Kategorie “kompliziert” bedeutet, dass die Kennzahl N, siehe oben, relativ klein ist. Je gr\u00f6\u00dfer N wird, desto “schwieriger” wird das komplizierte Problem. F\u00fcr “komplexe” Fragestellungen ist die Kennzahl N, wie oben ausgef\u00fchrt, unendlich. Es liegt keine Beschreibung im Raum der zur Verf\u00fcgung stehenden sprachlichen Mittel vor. Es kann damit auch kein Wissen existieren, welches in Form eines Rezeptes zu einem L\u00f6sungsweg geformt werden kann. Denn Wissen zu einem Thema kann nur existieren, wenn wir etwas Beschreibbares zu diesem Thema vorliegen haben. Hier sind Erfahrung und Talent essentiell. Je gr\u00f6\u00dfer oder kleiner Erfahrung und Talent sind, desto eher ziehe ich dann die Einwertungen “einfach”, “schwierig” oder “chaotisch” in der Kategorie komplex heran. Details zu der von mir vorgenommenen Erweiterung des Cynefin Modells k\u00f6nnen Sie in diesem Beitrag<\/a> nachlesen.<\/p>\n Man erkennt also, dass die Sprache, also wie wir Probleme oder Situationen beschreiben, extremen Einfluss auf die L\u00f6sung des Problems hat. Diese Reflektion m\u00f6chte ich zum Abschluss auf den derzeitig in vielen Unternehmen stattfindenden digitalen Wandel spiegeln. Eine Herausforderung besteht n\u00e4mlich darin, dass Begriffe f\u00fcr das Beschreiben des Neuen verwendet werden, die noch mit einer Bedeutung aus dem Bestehenden belegt sind. M\u00f6chte man einen Wandel forcieren, sollte man entweder Begriffe verwenden, die es im Bestehenden noch gar nicht gibt, und die man dann nat\u00fcrlich neu definieren muss. Oder man verwendet die bereits bekannten Begriffe, die dann allerdings in der Bedeutung umdefiniert oder erweitert werden m\u00fcssen. Gute Beispiele sind hier die Begriffe “Planung” oder “Konzept”. Egal welchen Weg man geht, aufmerksame und empf\u00e4ngerorientierte Kommunikation ist essentiell. Daf\u00fcr ist der Umgang mit den sprachlichen Mitteln extrem erfolgskritisch. Beachtet man den Fakt nicht und benutzt Begriffe aus dem Bestehenden ohne Reframing, kann es passieren, dass sinnvolle Aktivit\u00e4ten wie Planung oder Konzeptionierung im Neuen verp\u00f6hnt und damit verbannt werden, was fatal w\u00e4re. Wie wichtig Sprache f\u00fcr das Denken f\u00fcr uns Menschen ist habe ich in diesem Beitrag<\/a> gezeigt.<\/p>\n\n
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