Lässt sich über Wahrheit wahr sprechen?

Ein sehr guter Wegbegleiter auf meiner Reise des Verstehens hat mich angeregt über die Wahrheit nachzudenken, mit der Fragestellung: “Gibt es eine objektive Sichtweise der Welt?” Meine Ideen und Gedanken dazu möchte ich in diesem Post darlegen. Dieses Thema hat eine sehr große praktische Relevanz, die man vor allem in Diskussionen beobachten kann. Es gibt mehrere Diskursteilnehmer, die unterschiedliche Sichtweisen auf eine bestimmte Thematik haben und diese auch vertreten. Häufig nähern sich die Diskursteilnehmer mit ihren Sichtweisen nicht an. Ein Grund dafür ist aus meiner Sicht auch das Pochen auf Wahrheit ihrer Sicht. Damit nehmen Sie den übrigen Teilnehmern aber die Plattform, den n damit behaupten sie ja die Falschheit derer Sichtweisen. Damit kommen dann negative Emotionen ins Spiel, die leicht zu Konflikten ausarbeiten, die aufgrund das Pochen auf absolute Wahrheit und Objektivität auch wieder nicht gelöst werden können.

Gibt es Objektivität?

Gleich am Anfang möchte ich mein Argument zur Wahrheit platzieren, welches ich nachgelagert in drei Schritten erhärten möchte. Es gibt Wahrheit. Allerdings ist diese Wahrheit für die Menschen oft nicht wahrnehmbar. Ich habe also drei Sachen zu tun. Ich muss Wahrheit definieren, ich muss zeigen, dass es sie gibt und dass Menschen sie oft nicht wahrnehmen können. Dafür nehme ich Bezug auf die Vorlesung mit dem Titel Theorien der Wahrheit, gelesen von Maarten J.F.M. Hoenen der Albert-Ludwig Universität Freiburg. Diese Vorlesung kann ich sehr empfehlen. Ist aber schon harte Kost. Ich muss jede Vorlesung 2 bis 3 Mal hören.

1. Bezüglich der Definition von Wahrheit nimmt Hoenen Bezug zu Anselm, der Wahrheit wie folgt definiert: “Wahrheit ist Rechtheit, die nur durch die Vernunft wahrnehmbar ist.” Nehmen Sie beispielsweise einen geraden Stab. Woher wissen Sie dass dieser Stab gerade ist? Nun könnte man sagen, dass Sie sehen, dass dieser Stab gerade ist. Allerdings nehmen sie diese Geradheit des Stabes letztendlich durch den Verstand wahr, in dem Sie nämlich Ihre Sinneswahrnehmungen durch den Verstand verifizieren. Sie beweisen nämlich die Geradheit des Stabes, weil Sie wissen dass eine Gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die kürzeste Strecke zwischen 2 Punkten ist. Klarer wird dies wenn Sie den Stab ins Wasser halten. An der Wasseroberfläche krümmt sich der Stab. Sie sehen also in diesem Fall etwas anderes als das was Ihr Verstand Ihnen einflößt. Der sagt Ihnen nämlich immer noch, dass der Stab gerade ist, was er ja auch ist.

2. Jetzt weiß ich was Wahrheit ist. Aber gibt es sie auch? Nur dann wenn es möglich ist aus Wahrem Unwahres zu machen, macht es Sinn sich über Wahrheit Gedanken zu machen. Sonst würde man Wahrheit nicht thematisieren. Wir würden es im Sinne von Gotthard Günther rejecten, was er in seiner Polykontexturalitätstheorie ausführt. Nur Menschen können aus Unwahrem Wahres machen, da sie einen Verstand haben. Hier können wir wieder den Bezug zur Definition von Wahrheit ziehen. Diese Thematik drückt sich auch in der Positivität unsere Sprache aus. Auch dies thematisiert Gotthard Günther in der Polykontexturalitätstheorie. Wir können uns derzeit nur positivsprachlich ausdrücken. Denn um etwas zu verneinen, muss es dieses etwas erst geben, sonst könnte ich es nicht verneinen. Wenn ich also sage, dass es Wahrheit nicht gibt, muss Wahrheit ja existieren. In dem Moment also, wo ich krampfhaft versuche die Existenz von Wahrheit zu verneinen, stärke ich nur den Aspekt, dass es sie gibt. Ein Beispiel für eine Negativsprache ist übrigens die doppelte Buchführung in der Finanzbuchhaltung.

3. Kommen wir nun zum dritten Aspekt. Nach Anselm resultiert Wahrheit aus dem Wesen der Dinge. Alle Dinge, wie sie sind, beziehen sich auf genau eine erste Ursache. In dieser ersten Ursache liegt die reine Wahrheit begründet. Wenn alle Dinge durch diese erste Ursache verursacht sind, ist auch in diesen Dingen Wahrheit begründet. Anselm nimmt eine Dreiteilung vor. Die höchste Wahrheit ist Ursache und wird durch nichts verursacht. Sie ist bezüglich der Wahrheit rein. Dann gibt es Wahrheiten, die Ursache sind, aber auch verursacht werden. Das ist die Wahrheit in den Dingen. Und dann gibt es Wahrheiten, die nur verursacht sind, aber nicht Ursache für etwas sind. Das ist die Sprache. In dem Moment wo man wahr spricht, verleiht man der höchsten Wahrheit eine Stimme. Das ist aus Sicht Anselms die eigentliche Aufgabe der Wissenschaft. Ich denke diese kann sie aber nie erfüllen. Die Ursache dafür liegt in der Sprache und der Objektivität begründet.

Komme ich zur Objektivität, oder besser zur nicht vorhandenen Objektivität. Wir können die Dinge an sich nicht wahrnehmen, da wir unsere Wahrnehmungen filtern und gegen unsere Erfahrungen validieren und gegenprüfen. Wir Menschen sind “nichttriviale Maschinen”, wie Heinz von Förster es ausdrückt. Diesen Aspekt habe ich im Artikel Ist Objektivität eine Illusion? ausgeführt.

Kommen wir zur Sprache. Unsere Denk- und Wahrnehmungsprozesse sind des Weiteren von unserer Sprache beeinflusst. Denn, wenn wir Dinge der Umwelt wahrnehmen, darüber nachdenken und darüber kommunizieren, nutzen wir unsere Sprache. Auch jetzt wo ich darüber schreibe bin ich darin gefangen. Diesen Aspekt habe ich im Post Sprache als Linse detailliert. Die Objektivität werden wir nie herstellen können. Die Hürde der Sprache könnten wir vielleicht nehmen, wenn wir unsere Umgangssprache negativ ausrichten. Allerdings müssten wir dafür die zweiwertige Logik, auf die unsere gesamte Wissenschaft aufgebaut ist, umstoßen und zur Polykontexturalen Logik übergehen, wie Gotthard Günther es formuliert hat. Davon sind wir noch so weit entfernt, dass man als Spinner abgestempelt wird, wenn man darüber nachdenkt. Allerdings auch nach dem Nehmen dieser Hürde bleibt immer noch die niemals vorhandene Objektivität, was also letztendlich dazu führt, dass Wahrheit in Gänze von Menschen nicht erkennbar ist.

Können wir komplettes Wissen der Welt erlangen?

Es gibt in der Fragestellung 2 Begriffe, die man als Parameter betrachten kann. Dazu in den folgenden Schritten 2 und 3 mehr. Ich starte mal mit Schritt 1.

1. Die Skeptiker sind sich sicher, dass wir niemals die Dinge “da draußen” auch so wahrnehmen können wie sie sind. Unsere Wahrnehmung schlägt uns hier ein Schnippchen. Das habe ich im vorigen Abschnitt auch beschrieben und kann es aus meiner Sicht bejahen.

2. Die Idealisten versuchen diesen Fängen zu entkommen, in dem sie den Begriff “Welt” thematisieren. Es gibt gar nicht die Dinge “da draußen” ohne mein Zutun. Es gibt also keine von mir unabhängige Außenwelt. Jetzt kann man nach Meinung der Idealisten fragen, ob ich nun mit diesem Reframing des Begriffes “Welt” komplettes Wissen erlangen kann. Auch hier sieht man schnell Hürden. Es würde nämlich bedeuten, dass es grundsätzlich keine von mir unabhängigen Dinge der Außenwelt gibt. Das ist schwer vorstellbar. Auf der anderen Seite müsste das auch bedeuten, dass unsere Wahrnehmung uns niemals täuschen kann. Auch das ist schwer vorstellbar.

3. Nun nehmen wir uns den anderen Parameter hervor und versuchen diesen anders zu definieren, nämlich “Wissen”. Und jetzt beginnt das, was einige Philosophen nun machen, für mich fatal zu werden. Es ist aber leider viel zu häufig zu beobachten. Wir Menschen möchten etwas erreichen, merken dass sie es nicht erreichen und definieren das zu Erreichende einfach um. Dieses zu Erreichende ist hier das komplette Wissen. Ich gebe Ihnen ein kurzes Beispiel aus der Wirtschaft: Bilanzfälschung. Ein Unternehmen setzt sich ein bestimmtes Ziel für sein Ergebnis im Jahr 2012. Das Ergebnis wird nicht erreicht, also wird das Ziel einfach herunter geschraubt, so dass das Ziel, sprich das Ergebnis, erreicht wird. Bestandteile, die positiv auf das Ergebnis wirken, werden zugenommen oder Bestandteile, die negativ auf das Ergebnis wirken, werden einfach gestrichen. Man definiert damit quasi die Formel zur Errechnung des Ergebnis neu, im Sinne der Zielerreichung. Das ist der Archetyp der erodierenden Ziele.

So scheint es mir hier auch. Es wird einfach gesagt, dass wir wahrscheinlich einen zu hohen Anspruch an Wissen haben, also wird das Wissen niedriger definiert. Mit der Neudefinition hieße dass, dass die Menschen früher als sie noch der festen Überzeugung waren, dass die Sonne sich um die Erde dreht, über komplettes Wissen über die Welt verfügten. Damals zu dem Zeitpunkt sprach ja “objektiv” nichts gegen diese Feststellung. Heute schon. Deshalb sagen wir heute, dass die Menschen damals kein sicheres Wissen hatten. Nur was bringt uns das? Die Fakten der Außenwelt sind die gleichen. Wir Menschen machen uns etwas vor. Da kann ich nur schwer mitgehen.

Vielleicht ist dieser Aspekt ja auch wieder ein Zeichen dafür, dass wir Menschen schlecht mit Unsicherheit umgehen können. Warum nicht einfach zugestehen, dass wir niemals komplettes Wissen über die Welt erlangen können? Ich bin der festen Überzeugung, dass wir niemals sicher sein können, dass das was wir heute als absolut sicheres Wissen ansehen, morgen komplett verworfen werden kann. Also kann ich von dem was ich heute weiß nicht sagen, dass es total sicher ist.

Ich finde schade, dass auch Teile der Philosophen Züge erkennen lassen, wie wir sie beispielsweise in der Wirtschaft erkennen können (siehe obiges Beispiel).

Was hat Sprache mit Wahrheit zu tun?

Ich möchte mich für diese Fragestellung auf Gottfried Wilhelm Leibniz beziehen. Anselm geht noch davon aus, dass in den Dingen an sich Wahrheiten sind und wir diese erkennen oder finden können. Nur manchmal spielen unsere Sinne uns einen Streich. Dann transformiert der Mensch Wahrheit zu Unwahrheit. In der modernen Philosophie wurde genau diese Thematik untersucht. Kant sagt ja beispielsweise, dass wir das „Ding an sich“ niemals erkennen können. Damit kann es also auch nicht darum gehen, die Wahrheit in den Dingen zu suchen, sondern die Wahrheit in den Aussagen von Menschen zu suchen. Dafür möchte ich jetzt gerne die Ideen und Gedanken von Leibniz ins Spiel bringen.

Nach Leibniz kann man von Wahrheit sprechen, wenn die Beziehungen zwischen den Vorstellungen mit den Beziehungen zwischen den Dingen übereinstimmen. Wie kann man aber diese Übereinstimmung feststellen? Leibniz meint, das ist genau dann der Fall, wenn ein bestimmter Sachverhalt sich nicht anders und ohne Wiederspruch in eine bestimmte Sprache ausdrücken lässt und wenn der Sachverhalt, egal in welcher Sprache er ausgedrückt wird, stets erhalten bleibt.

In seinem Traktat Dialogus von 1677 untersucht Leibniz die Möglichkeit, ob es Wahrheit in den Dingen geben kann. Es geht um den Fall, dass der Kreis diejenige geometrische Figur ist, wo die Beziehung zwischen Flächeninhalt und Umfang am größten ist. Will man also mit einem vorgegebenen Seil eine Fläche größtmöglichen Inhaltes abstecken, dann muss ich einen Kreis abstecken. Leibniz kommt zu dem Schluss, dass dies wahr ist, aber nicht nur wenn er daran denkt, sondern auch wenn er nicht daran denkt. Diese Wahrheit kann also gefunden werden, um in den Worten von Anselm zu sprechen. Also ist doch Wahrheit in den Dingen und nicht in den Vorstellungen? Das stellt Leibniz in Frage. Er meint Wahrheit und Unwahrheit müssen stets gemeinsam vorliegen. Wahrheit ohne die Möglichkeit von Unwahrheit geht nicht, denn sie sind stets die 2 Seiten einer Medaille. Das habe ich in meiner ersten Mail an Ihnen auch schon ausgedrückt. Kann man denn auch Unwahrheit von Dingen aussagen. Das geht nicht. Das kennen wir von Anselm. Unwahrheit kann man nur von Vorstellungen aussagen, nicht von Dingen. Wenn man aber Unwahrheit nicht in Dingen finden kann, dann kann man auch Wahrheit nicht in Dingen finden. Er konzentriert sich also auf Vorstellungen und unterscheidet diese noch einmal. Das muss er auch, wie im obigen Beispiel angedeutet. Das möchte ich noch einmal an einem anderen Beispiel belegen: 2+2=4. Das ist wahr auch wenn ich nicht daran denke, also wenn ich mir das gerade nicht vorstelle. Leibniz unterscheidet deshalb aktuelle und mögliche Vorstellungen. Wahrheit und damit auch Unwahrheit findet man in den möglichen Vorstellungen. Mögliche Vorstellungen werden durch Denken in aktuelle Vorstellungen abgebildet. Ist dann die mögliche Vorstellung wahr, ist auch die aktuelle Vorstellung wahr.

Im Fazit sagt Leibniz, dass Wahrheit niemals in den Dingen gefunden werden kann, wie Anselm das noch dachte. Der Grund ist nämlich, dass Dinge stets wahr sind und niemals unwahr sein können. Wahrheit gibt es nur in faktischen und in möglichen Sätzen von Menschen, die über Dinge ausgesagt werden können. Um das aber zu denken, muss man Vorstellungen unterscheiden. Denn ein Satz kann nicht nur wahr sein, wenn man an diesen denkt. Dazu noch ein Beispiel. Ich habe 2 Kinder. Egal ob ich daran denke oder nicht ist dieser Satz stets wahr. Möglich wäre, dass ich 1 Kind oder 3 Kinder habe. Das sind dann mögliche Vorstellungen. Diese können auch als wahr gedacht werden. Nur sie stimmen eben faktisch nicht. Und das merke ich wenn ich diese Vorstellungen denke. Dann bilde ich die möglichen Vorstellungen auf die faktischen Vorstellungen ab und erkenne keine Übereinstimmung. Ich ordne also allen möglichen Sätzen durch mein Denken die Attribute “wahr” und “unwahr” zu.

Schon damals gab es Gegenwind zu der Denkweise von Leibniz bzgl. Wahrheit. Wenn man Wahrheit nur in Vorstellungen, die durch Sätze zum Ausdruck gebracht werden, finden kann, wäre Wahrheit ja willkürlich. Denn man verwendet Zeichen, denen man eine bestimmte Bedeutung zuspricht, um Sätze überhaupt zum Ausdruck zu bringen. Die willkürliche Verwendung von Zeichen lassen dann damit auch die Wahrheit in Sätzen willkürlich werden. Leibniz entgegnete aber, dass die Willkürlichkeit ab dem Zeitpunkt nicht mehr zutrifft, wenn man sich auf eine Bedeutung für ein Zeichen festgelegt hat. Wenn ich auf der Straße einen Hund sehe und zu meiner Frau sagen würde: “Schau mal ein Affe.”, würde sie mich wahrscheinlich schmal anschauen.

Fazit

Nun möchte auf die Frage dieses Posts zurück kommen. Ich denke schon, dass man über Wahrheit wahr reden, aber eben nicht absolut und objektiv, sondern stets in dem jeweiligen Kontext, also relativ.

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8 Responses to Lässt sich über Wahrheit wahr sprechen?

  1. Peter Addor says:

    Wenn ich Dich richtig verstehe, glaubst Du an eine (objektive) Wahrheit, die aber “absolut und objektiv” nicht beobachtet oder erkannt werden kann.

    Was hilft Dir dieser Glaube? Was nützt eine Wahrheit, die man nicht (absolut) erkennen und erfahren kann? Diese Wahrheit hat dann denselben Stellenwert wie eine Gottheit, an die man glaubt, obwohl man sie nicht erfahren kann.

    Ich kann die Vorstellung einer absoluten Wahrheit nicht nachvollziehen. Wie ich in http://goo.gl/oSuSr gezeigt habe, ist nicht einmal die Newtonsche Mechanik (oder irgend eine andere physikalische Theorie) gewiss. Es macht m.E. keinen Sinn darüber zu spekulieren, welche Geschwindigkeit ein Körper nach Durchfallen einer gewissen Höhe in Wahrheit hat. Die Newtonsche Formel “Wurzel aus 2gh” ist zwar keine Wahrheit, aber nützlich und genau genug.

    Du zitierst Anselm, der vor fast 1000 Jahren gelebt hat, und Leibniz, den ich sehr verehre und schätze. Aber wir haben heute hoffentlich ein Wahrheitsverständnis, das sich von demjenigen dieser beiden Männer wesentlich unterscheidet, denn wir haben seit Leibniz auf unserer Reise des Verstehens einen langen Weg zurück gelegt. Denke z.B. nur an die Erkenntnisse, dass sich das Weltall ausdehnt, dass die Kontinente auf dem Magma “herum schwimmen” oder dass Radioaktivität auch aus alpha- und beta-Teilchen besteht. Dieses Wissen ist noch keine 100 Jahre alt, während Leibniz schon seit 300 Jahren tot ist.

    Die drei Wissensbeispiele – Ausdehnung des Weltalls, Wegener Theorie und Radioaktivität – sind keine Wahrheiten. Wir werden unser Verständnis davon immer wieder revidieren müssen. Die meisten Erkenntnisse verstehen wir noch gar nicht richtig.

    Es gibt nicht einmal mathematische Wahrheiten! Z.B. ist der Lehrsatz von Pythagoras weit entfernt, eine absolute Wahrheit zu sein. Auf einer Kugeloberfläche ist er eine glatte Lüge! Im Buch von Buch “Eine gewisse Ungewissheit” von Hartosh Singh Bal und Gaurav Suri (DuMont, Köln, 2008) diskutieren ein bigotter amerikanischer Dorfrichter und ein indischer Mathematiker darüber, ob der Satz von Pythagoras oder der christliche Gott Wahrheiten seien und kommen gemeinsam zum Schluss, dass das eine genauso ein Glaube ist, wie das andere.

    • Hallo Peter,

      Wenn ich Dich richtig verstehe, glaubst Du an eine (objektive) Wahrheit, die aber “absolut und objektiv” nicht beobachtet oder erkannt werden kann.

      Ich glaube an eine kontextbezogene Wahrheit, je nach Situation und Gegebenheit. Diese ist subjektiv und nicht absolut. Diese Wahrheit nehmen wir wahr. Die “Wahrheit an sich” können wir, ähnlich wie Kant es mit dem “Ding an sich” ausdrückte, nicht wahrnehmen. Das nehme ich heute als wahr an. Wie ich diese Aussage morgen bewerte, weiß ich nicht.

      Was hilft Dir dieser Glaube? Was nützt eine Wahrheit, die man nicht (absolut) erkennen und erfahren kann? Diese Wahrheit hat dann denselben Stellenwert wie eine Gottheit, an die man glaubt, obwohl man sie nicht erfahren kann.

      Weil wir es hier mit einer Thematik zweiter Ordnung zu tun haben. Wir werden niemals wissen, ob das was wir über das Wissen wissen vollständig und absolut ist. Was wir heute als scheinbar sicher annehmen, kann morgen umgestoßen werden. Das kann man sich besonders deutlich vor Augen führen, wenn man eine kleine Reise in die Vergangenheit unternimmt, was ich in meinem Post mit Anselm und Leibniz andeuten wollte. Ich glaube heute nicht an die absolute Wahrheit an sich. Sicher bin ich mir aber nicht. Diese Demut gegenüber einer grundlegenden Unsicherheit im Wissen führst Du in Deinem Post ja auch an. Wenn ich auf Basis meines derzeitigen Glaubens dieses Thema nie mehr anpacken würde, stehe ich mir bzgl. eines Erkenntnisgewinns im Wege. Hätten die Menschen damals auf Basis ihres Glaubens, die Sonne drehe sich um die Erde, das Nachdenken und Forschen in dieser Sache abgelegt, säßen wir heute diesem Glauben immer noch auf.

      Beste Grüße,
      Conny

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  4. Ueber diese Frage laesst sich trefflich streiten. Ich will jetzt nicht Popper und seine Uberlegungen zur Erkenntnistheorie bemuehen, aber eines scheint mir Wert festgehalten zu werden. Der “Kampf” um Standpunkte und Wahrheit, hat nichts mit Falsifizierung, empirsch messbarer und abgesicherter Wahrscheinlichkeit oder a priori Feststellungen zu tun die offensichtlich zutreffend sind. Es geht im Kern meist um das Ego des jeweiligen “Wahrheitsverteidigers” der durch Anhaftungen und erlernte neuronale Muster dazu tendiert seinen Weg zur Wahrheit grundsaetzlich ueber den des Gegenuebers zu stellen. Dieses Phaenomen sehen wir durchaus auch in den um Objektivitaet bemuehten Wissenschaften. Geht man an die Wahrheit ganz genau heran, dann muss man eingestehen, das Wahrheit immer eine Vermutungswahrheit ist die lediglich mit Wahrscheinlichkeiten unterschiedlicher Guete ausgestattet ist. Wenn es um Wahrheiten im Verhaltensbereich geht, ist Wahrheit wohl ohnehin eine Ilussion, da die menschliche Interpretation schlicht offen ist. Bewegt man sich in komplexen adaptiven Systemen wie Gesellschaften oder Maerkten, kommt man mit Wahrheit und das zerpfluecken selber in kleinste Details nicht weiter, denn hier interessieren Details nicht, sondern hier spielen die erkennbaren Muster die Hauptrolle. Auch wenn wir uber kognitive Prozesse sprechen kommen wir mit rein linearen Ansaetzen zur Verteidigung von “Wahrheitspositionen” nicht weiter. Dazu koennte man noch eine Menge sagen, ich lasse es jetzt mal und gratuliere zu dem Thema und der Herangehensweise.

  5. Pingback: Eigenschaften einer guten Führungskraft? Frag` doch einfach Platon | Initiative Wirtschaftsdemokratie

  6. Manches vermeintliche Wissen ist zudem einfach nur Gewohnheit, mit der sich auf ebenso einfachem Wege Dinge verallgemeinern lassen, so dass man sich über den Kontext keine weiteren Gedanken machen muss, damit die Wahrheit, die zudem immer komplexer zu werden scheint, nicht zu offensichtlich wird. Die Wahrheit ist, dass nichts Reales so ist, wie es scheint, weil alles Reale in Wirklichkeit ganz anders ist …

    Gruß

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